Es rauschte ja wie ein Wirbelwind durch alle Medien: Die Bundesregierung wolle auf einmal kostenlosen ÖPNV für alle. Selbst Zeitungen, die sich noch nie mit den wirklichen Nöten von ÖPNV-Nutzern, Kommunen, Pendlern und Sozialticket-Nutzern beschäftigt haben, bläkten am Dienstag, 13. Februar: „Kostenloser ÖPNV für alle!“ Man fühlte sich wie auf einem Basar, auf dem schrille Clowns gleich mal das ganze Inventar anpriesen: „Alles für umme, Leute! Greift zu!“ Eine Republik voller Jahrmarktclowns.

Aber das Gezeter zeigte Wirkung. Denn das Thema, um das es geht, brennt den Bürgern der deutschen Großstädte seit Jahren auf der Seele. Nicht mal so sehr die Luftbelastung mit Stickoxiden, die nun möglicherweise dazu führen wird, dass es in einigen Städten die ersten Fahrverbote für Diesel-Pkw geben wird.

Denn dass in unseren Städten derart dicke Luft herrscht, dass die EU-Grenzwerte gerissen werden, hat ja mit einer völlig vergeigten ÖPNV-Förderpolitik zu tun. Im Grunde ist es dasselbe Thema wie beim sozialen Wohnungsbau, der nicht deshalb sozial ist, weil er armen Sozialleistungsbeziehern ein Obdach schafft, sondern weil er für alle Stadtbewohner bezahlbaren Wohnraum schafft. Er ist das einzige Korrektiv gegen die heute wieder überall sichtbaren Immobilien-, Bauland- und Miet-Spekulationen.

Genauso wie der ÖPNV das einzige Korrektiv für Wildwest auf unseren Straßen ist. Weil er bezahlbare Mobilität für alle schafft.

Erst bezahlbarer Wohnraum für alle und bezahlbare Mobilität für alle machen unsere Städte bewohnbar, attraktiv und wettbewerbsfähig.

Nur: Das spielte in der Politik der letzten sieben, acht Bundesregierungen keine Rolle mehr. Denn deren Politik war vom „Markt, der alles regelt“, geradezu besessen. Das Mantra der Neoliberalen sorgte für eine um sich greifende politische Blindheit, über die die nicht so gut betuchten Großstädter, die am Feierabend nicht mit dem SUV in ihr Landhausdomizil draußen im Grünen flüchten können, nur noch fluchen können.

Dass das Echo auf die Vorschläge, die die drei Bundesminister in ihrem Brief an die EU-Kommission formulierten, derart groß war, hat mit dieser tiefen und nun seit Jahren gärenden Not zu tun. Denn der politisch erstarrte Neoliberalismus zerstört unsere Städte.

Dass der Bund mehreren Städten gleich kostenlosen ÖPNV schenken wolle, stand so übrigens auch nicht in dem Schreiben. Es waren nur Modellprojekte, für deren Umsetzung die drei Minister fünf Modellstädte vorschlugen.

Deswegen war es auch kein Rückrudern, als aus der Regierung offiziell zu hören war, dass die Vorschläge gar nicht so gemeint waren, wie es all die um Aufmerksamkeit jaulenden Medien hinausposaunt hatten. Der Brief war ja gar nicht öffentlich. Und die, die ihn zuerst zugespielt bekommen hatten, hatten daraus sichtlich verzerrt eine aufgeblasene Nachricht gebastelt.

Aber da auch die engagierten Verkehrsinitiativen meinten, an den schreienden Artikeln sei irgendetwas dran, glaubten sie dann am Donnerstag, 15. Februar, tatsächlich, die Bundesregierung rudere zurück „nach ihrem Vorstoß, zur Verbesserung der Luftqualität in Städten, kostenlosen öffentlichen Nahverkehr zu prüfen“.

So wie der Verkehrsclub Deutschland (VCD), der dann noch heraushörte: „Die Kommunen sollten nun doch selbst bestimmen, welche Maßnahmen zur Luftreinhaltung sie umsetzen wollen, sagte ein Sprecher des Umweltministeriums laut Medienberichten am Mittwoch. Auch will sich die Bundesregierung nicht festlegen, wer die zusätzlichen Kosten des Gratis-Nahverkehrs tragen soll – die Kommunen oder der Bund.“

Das Ergebnis: Wieder einmal wurde erfolgreich Misstrauen geschürt, weil das mediale Klamaukbild nicht zu dem passt, was tatsächlich passiert ist.

Wovon sich dann auch Philipp Kosok, ÖPNV-Experte des VCD, anstecken ließ: „Erst am Sonntag hat Kanzlerin Merkel im TV-Interview beteuert, dass sie zu den Menschen gehöre, die ihre Versprechen einhalten. Für ihre Minister gilt das anscheinend nicht. Nun soll es mit dem kostenlosen Nahverkehr doch nicht so gemeint gewesen sein, wie es in einem Brief an EU-Kommissar Karmenu Vella schwarz auf weiß steht. Dieses Rückrudern zeugt von einer kompletten Plan- und Verantwortungslosigkeit der Bundesregierung. Ambitionierte Lösungen für das Schadstoffproblem in den Städten sind seit Jahren überfällig, doch die große Koalition versagt auf ganzer Linie. Erst hat die Bundesregierung die Autoindustrie mit ihren Betrügereien billig davonkommen lassen.”

Kosok weiter: “Die Einführung der Blauen Plakette, die es den Kommunen ermöglichen würde, nur die wirklich schmutzigen Dieselautos aus den Innenstädten zu verbannen, blockiert das Verkehrsministerium bis heute. Und nun schrecken die zuständigen Minister auch noch davor zurück, den ÖPNV ernsthaft zu verbessern: was für eine Farce. Der Bund muss jetzt liefern. Um die Luft in den Städten zu verbessern, wäre bereits eine Halbierung der Ticketpreise hilfreich, darüber hinaus muss das ÖPNV-Angebot ausgeweitet werden. Es braucht ein klares Bekenntnis der Bundesregierung, die Kommunen dabei finanziell zu unterstützen und die Autoindustrie als Verursacher der Luftverschmutzung an den Kosten zu beteiligen.“

Die nötige Spurensuche: Wer hat die Nachricht so verdreht?

Augenscheinlich wusste man zuerst beim politischen Magazin „Politico“ von dem Brief, ein Magazin, das sein Vorbild beim us-amerikanischen Polit-Magazin „Politico“ hat. Seit 2015 gibt es auch ein europäisches Joint Venture, bei dem ausgerechnet der Axel Springer Verlag der Medienpartner ist.

Wirklich zur Hype-Nachricht aufgeblasen wurde die Behauptung, der Bund erwäge „zusammen mit Ländern und Kommunen kostenlose Bus- und Bahntickets sowie Fahrverbote in Problemzonen, um die Zahl privater Fahrzeuge zu verringern“, dann durch eine Meldung von DPA, die am 13. Februar zur Mittagsstunde in alle angehängten Redaktionen versendet wurde.

Deswegen ploppten ab 12:20 Uhr am 13. Februar bei jedem kleinen und mittelgroßen Provinzblatt dieselben Schlagzeilen vom „kostenlosen ÖPNV“ hoch. Praktisch keine von diesen hunderten eiligster Redaktionen hatte den Brief vorliegen. Alle phantasierten drauflos.

Logisch, dass man auch beim VCD enttäuscht ist, dass sich das Ganze als heiße Luft erwies.

Denn Recht hat Kosok: Das Thema bezahlbarer ÖPNV ist überfällig. Aber Bundesregierung um Bundesregierung verweigert es.

Und die wirklich schlimme Nachricht: Im neuen Koalitionsvertrag steht dazu auch nichts (zu finden ab Seite 122).

Zum aktuellen Koalitionsvertrag, der nun zur Debatte steht zum Download.

Leipzig soll sich als Modellkommune für fahrscheinlosen ÖPNV bewerben

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Keine Kommentare bisher

Mich würde ja mal interessieren, was denn nun tatsächlich an die EU kommuniziert wurde.
Ich kann mir nicht vorstellen, dass nach jahrelangem Versagen bei diesem Thema und extremem Schützen der Automobilindustrie das überfällige Durchgreifen der EU mit einem “wir probieren mal in ein paar Städten kostenlosen ÖPNV” abgebügelt werden kann. Das wäre Kabarett vom Feinsten, wie es schon oft von Ministerien oder dem Bund selber geschrieben wurde.

Erwartbar wäre, dass die erfolgreichen Versuche dann für “die Lösung schlechthin” erklärt werden, die Länder oder Kommunen dann zahlen dürfen und der Bund sich weiter um das Wohlergehen der Automobilindustrie kümmern wird. Wie schon bisher.

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