Warum ist es eigentlich gerade der Fahrradverein ADFC, der sich derzeit so vehement gegen die Versuche des Leipziger Handwerkskammerpräsidenten wehrt, eben nicht nur die Leipziger Baubürgermeisterin aus dem Amt zu drängen, sondern auch die Verkehrspolitik der Stadt auszuhebeln? Der Grund ist einfach: Beim ÖPNV ist die Entwicklung längst im Rollen. Es sind die Radfahrer, die man versucht, aus dem Rennen zu schieben.

Am 24. Oktober hat OBM Burkhard Jung zusammen mit Baubürgermeisterin Dorothee Dubrau die sechs Mobilitätsszenarien vorgestellt, über die jetzt der Stadtrat diskutiert. Wir haben alle sechs Szenarien ausführlich analysiert und uns auch von den großen Zahlen nicht irritieren lassen. Eine Milliarde Euro werde man so oder so in den nächsten Jahren in den ÖPNV investieren müssen, hatte Burkhard Jung erklärt. Wenn man es nicht täte oder auch nur ein „Weiter so“-Programm führe, hätte Leipzig spätestens 2030 all die Probleme, die jetzt erst einmal nur als Schatten an der Wand stehen – verstopfte Straßen, vollgestopfte Bahnen, Frust auf allen Seiten. Und eines auf gar keinen Fall mehr: Freiraum für den Wirtschaftsverkehr.

Das Problem ist: Man redet derzeit öffentlich konsequent aneinander vorbei.

Was auch am Dienstag, 21. November, wieder deutlich wurde beim von der Freibeuter-Fraktion veranstalteten „Stadtgespräch Verkehr“. Da stand auch die Frage im Raum, welchen Anteil des motorisierten Verkehrs man mit klugen Investitionen auf Bahn, Bus oder Fahrrad umlenken könnte. Prof. Dr.-Ing. Gerd-Axel Ahrens, Seniorprofessor an der Fakultät Verkehrswissenschaften der Technischen Universität Dresden, nannte dort eine Zahl von 60 Prozent aller Autofahrten, die in Großstädten wie Leipzig kürzer als 5 Kilometer seien. Also aus seiner Sicht regelrechte „Spaßfahrten“. Denn das sind Entfernungen, die sich auch zu Fuß oder mit dem Fahrrad leicht zurücklegen lassen.

Dr. Gert Ziener, Abteilungsleiter Wirtschafts- und Bildungspolitik der IHK zu Leipzig widersprach an dieser Stelle: Die jüngste IHK-Studie habe nur ein Viertel „Spaßfahrten“ ergeben.

Das war dann aber Äpfel mit Birnen verglichen. Denn die IHK-Studie hat ja gar keine Entfernungen abgefragt, sondern nur den Zweck der Fahrt. In dieser Interpretation sind alle Fahrten, die nicht aus beruflichen Gründen passieren, „Spaßfahrten“.

Was aber nichts mit der von Ahrens genannten Zahl zu tun hat. Die er nur schätzen konnte. Die Leipziger Verhältnisse kenne er nicht so genau, sagte er.

Aber im Zusammenhang mit der regelmäßigen Mobilitätsbefragung der Stadt werden diese Zahlen ermittelt. 2015 das letzte Mal. Und das Erfreuliche war, dass Leipzig durchaus davon profitiert, dass es einen relativ gut ausgebauten ÖPNV hat. Nur 49,2 Prozent der Wege, die Leipzigs Autofahrer mit dem Auto absolvieren, waren kürzer als 5 Kilometer. Die schlechte Nachricht: Das war mehr als sieben Jahre zuvor, als man noch 48,4 Prozent ermittelte.

Gesunken ist zwar der Anteil der wirklichen „Spaßfahrten“ unter 1 Kilometer – von 8,8 auf 7,1 Prozent. Dafür stieg der Anteil der Fahrten zwischen 1 bis 3 Kilometer von 22,4 auf 24,3 Prozent. Die wahrscheinliche Hauptursache für die Entwicklung: Die Entwicklung der großen Supermärkte in Leipzig, die mit ihren riesigen Parkflächen geradezu dazu einladen, die Einkäufe mit dem Auto zu machen.

Aber auch die Fahrten zwischen 3 und 5 Kilometer haben von 17,2 auf 17,8 Prozent zugelegt. Das ist eigentlich schon die Dimension, in der normalerweise der ÖPNV seine Stärken ausspielt. Und Prof. Ahrens hat Recht, wenn er sagt, dass alle Autofahrten in diesem Entfernungsbereich in einer Großstadt wie Leipzig deutlich reduziert werden können.

Was übrigens nicht neu ist. Die Leipziger Verkehrsbetriebe (LVB) arbeiten an dieser Strategie schon fast zehn Jahre. Denn das schafft man vor allem, indem man

a) das Haltestellennetz verdichtet und

b) die Taktzeiten der Straßenbahnen verdichtet.

Schritt c) wäre eigentlich die Einführung eines simplen und sinnvollen Kurzstreckentickets, das das bisherige sinnlos gewordene Kurzstreckenticket ablöst. Aber so weit ist man bei LVBs noch nicht. Ein direktes Ergebnis dieser Wahrnehmungsschwäche ist: Der Anteil der ÖPNV-Fahrten kleiner als 1 Kilometer ist von 2008 bis 2015 regelrecht eingebrochen von 5,2 auf 1,8 Prozent.

Und davon wieder haben vor allem Fußverkehr (Wachstum von 72 auf 79 Prozent) und Radverkehr (Wachstum von 19,5 auf 25 Prozent) profitiert. Ansonsten hat der ÖPNV in allen Segmenten bis 10 Kilometer zugelegt. Nur darüber ist er regelrecht eingebrochen – von 25,8 auf 13,4 Prozent. Was mehrere Gründe hat. Das eine ist die Entstehung vieler neuer Unternehmen im Nordraum, die nur mit dem Auto wirklich sinnvoll angesteuert werden können. Leipzigs Stadtplaner haben längst erkannt, dass es gerade dort an sinnvollen S-Bahn-Stationen fehlt. Dazu kommt eine Erkenntnis just aus der IHK-Studie: dass Nord- und Südraum auch ansonsten schlecht vom ÖPNV erschlossen sind. Wer dort zur Arbeit muss, hat entweder miserable Anschlüsse oder sinnfreie Anbindungen.

Dazu kommt eine Erkenntnis aus dem MDV: Leipzigs Verkehrspolitik hört an der Stadtgrenze auf. Viele Anschlüsse zu Umlandlinien sind nicht aufeinander abgestimmt, sinnvolle Fahrpreisgestaltungen, die ein Mobilsein ohne hohe Extrakosten möglich machen, gibt es nicht. Spätestens wenn es um das Überschreiten der Stadtgrenze geht, wird ÖPNV-Nutzung gegenüber dem Auto ziemlich unattraktiv.

Und noch ist Leipzigs Verwaltungsspitze nicht so weit, im zerstrittenen MDV-Gebiet endlich ein Machtwort zu sprechen und alle Beteiligten für eine sinnvolle ÖPNV-Planung an einen Tisch zu holen.

Denn gerade die Gemeinden direkt hinterm Stadtrand wissen genau, dass nur ein flutschender ÖPNV, der alle verbindet, auch hilft, den gemeinsamen Wirtschaftsboom zu gestalten.

Was für eine Rolle spielt da eigentlich Baudezernentin Dorothee Dubrau?

Gar keine.

Sie setzt Konzepte um, die fast alle schon vor ihrer Amtszeit entwickelt und beschlossen wurden. Nicht nur das Radverkehrskonzept von 2012, das jetzt die Wirtschaftskammern so auf die Palme bringt, obwohl sie froh sein sollten, dass Radverkehr in Leipzig boomt. Denn jeder Radfahrer ist ein Auto weniger im Stau.

Und wohin geht die Reise?

Nicht einmal das bestimmt die Stadt. Das bestimmen die Verkehrsteilnehmer selbst. Und mit Zahlen unterlegt steht mittlerweile fest: Es sind Radverkehr und ÖPNV-Nutzung, die in Leipzig wachsen.

Weswegen übrigens die meisten der sechs Mobilitätskonzepte jetzt schon Makulatur sind. Denn die höheren Investitionen in den ÖPNV hat die LVV schon längst in der Planung, wie LVV-Geschäftsführer Norbert Mencke ja nun der LVZ verriet. Über 1 Milliarde Euro will man in Verkehrsinfrastrukturen investieren. Und die neuen XL-Bahnen scheinen so gut anzukommen, dass man nach Kauf der ersten 41 Fahrzeuge noch 20 nachbestellen will.

Die Stadt reagiert also auf eine Entwicklung, die schon längst im Gange ist. Und Leipzig hat die Potenziale von Radverkehr und ÖPNV noch lange nicht erschlossen.

Und wenn Leipzig nicht am Autoverkehr ersticken will, tut es gut daran, diesen Weg wirklich konsequent fortzusetzen.

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