Seit Donnerstag ist der Entwurf zum Integrierten Stadtentwicklungskonzept „Leipzig 2030“ zur Diskussion freigegeben. In Vielem bleibt er – notgedrungen – vage. Denn etliche Pläne, auf denen er aufbaut, sind noch immer in Arbeit. So wie der Nahverkehrsplan. Dabei attestiert selbst das Stadtentwicklungskonzept, dass man hier wertvolle Jahre einfach vertrödelt hat.
Denn das Rätselraten war ja groß: Eigentlich sollte der ÖPNV mal 25 Prozent aller Verkehrswege der Leipziger abdecken, was ein zaudernder Stadtrat dann auf 23 Prozent absenkte als Ziel. Denn tatsächlich hängt der ÖPNV im sogenannten „modal Split“ bei 17 Prozent herum. Und die Autoren des jetzt vorgelegten Stadtentwicklungskonzepts sind sich sogar ein klein wenig einer Schuld daran bewusst.
Denn im Teil zur „Nachhaltigen Mobilität“ im Konzept heißt es ziemlich eindeutig: „Die Attraktivität des ÖPNV konnte allerdings in den vergangenen Jahrzehnten nicht im gesamten Netz stetig verbessert bzw. aufrechterhalten werden. So nahmen Unpünktlichkeit und die Anzahl von Langsamfahrstrecken zu. Zwar wurde im Einzelfall der Straßenbahnbetrieb aufgrund sinkender Nachfrage und Auslastung auf Busbetrieb umgestellt, im Gegenzug dazu hat es jedoch aufgrund veränderter Streckenführungen auch eine entsprechende Angebotserweiterung gegeben. Langjährig geplante Erweiterungen finden z. T. nur geringe Akzeptanz bei betroffenen Anliegern und müssen in breit angelegten Beteiligungsverfahren abgestimmt werden. Insbesondere für die Gewerbestandorte im Nordraum gilt es, die ÖPNV-Anbindung bedarfsgerecht zu entwickeln.“
Hollerrö, könnte man da, frei nach Loriot, sagen.
Denn dahinter steckt ein massives Problem: Wenn die ÖPNV-Strukturen nicht mitwachsen, wächst automatisch das Pkw-Aufkommen. Dann versuchen die Leipziger, ihre Arbeitsplätze mit dem Auto zu erreichen. Und die Vision für dieses Verkehrsaufkommen steht im Papier: „An einem durchschnittlichen mittleren Werktag legen die Leipziger 3,6 Wege zurück. Bei prognostizierten ca. 150.000 zusätzlichen Einwohnern entspricht dies rund 540.000 (plus ca. 25 %) zusätzlichen Wegen pro Werktag. Aus heutiger Sicht ist eine Änderung der durchschnittlichen Verkehrsmittelwahl der Leipziger geboten. Andernfalls wäre durch eine Zunahme des Pkw-Bestandes von 30 bis 40 % bis 2030 nicht nur mit einer Verschärfung des Parksuchverkehrs zu rechnen, sondern auch mit erheblichen Stauerscheinungen und der Reduzierung der Durchschnittsgeschwindigkeit für alle Verkehrsmittel.“
Und die Lösung?
Ganz zaghaft wird sie angedeutet: „Es wird deutlich, dass bis 2030 bei allen Verkehrsarten ein deutlicher Anstieg des Verkehrsaufkommens zu erwarten ist. Ohne steuernde Maßnahmen werden zunehmend die Grenzen der Kapazitäten, insbesondere im ÖPNV und im MIV erreicht. Mit Hilfe der Mobilitätsstrategie 2030 sowie den darin enthaltenen Maßnahmen wird sich Leipzig diesen Herausforderungen stellen.“
Diese „Mobilitätsstrategie 2030“ gibt es freilich noch nicht, sie soll erst erarbeitet werden und dann möglicherweise den Rahmen für den nächsten Nahverkehrsplan abgeben. Das kann dauern. Und es ist ein Zeichen dafür, dass die Verwaltung das Thema Verkehr noch immer schematisch denkt und versucht, erst einmal theoretische Rahmenpläne zu erarbeiten, statt schon da zu gestalten, wo der Gestaltungsdruck unübersehbar ist.
Man will erst prüfen und „Konzepte erarbeiten“, wie es im Konzept zum INSEK heißt. Logisch, dass Journalisten bei so viel Konzepterei verzweifeln.
Stichpunktartig heißt es da, man wolle sich folgende Themen vornehmen:
– Netzentwicklung der einzelnen Verkehrsträger (u. a. Netzerweiterung Straßen-/S-Bahn, Prüfung Ost-West-Tunnel)
– Verkehrskonzept Erweiterte Innenstadt (u. a. Lösung städtebauliche Gestaltung Umfeld Hauptbahnhof)
Und konkreter zu „Qualifizierung und Ausbau des ÖPNV“:
– Fortschreibung und Umsetzung Nahverkehrsplan:
– Steigerung der Auslastung durch Mobilitätsmanagement und Qualifizierung des Fahrzeugangebotes,
– neue Mobilitätsdienstleistungen, Nutzung der Digitalisierung
– Qualifizierung des ÖPNV-Netzes in innerstädtischen Bereichen (technische Optimierung),
– Optimierung Quartierserschließung, Ausbau in den städtischen Randbereichen und zur Anbindung des regionalen und überregionalen Verkehrs
– Neuorganisation des ÖPNV auf dem Innenstadtring, Kapazitätserweiterung des zentralen ÖPNV-Drehkreuzes am Hauptbahnhof
– Verbesserung der ÖPNV-Anbindung der Gewerbestandorte
Lauter Dinge, die man eigentlich in einem schlüssigen Nahverkehrskonzept erwartet hätte, das schon vor einem Jahr vorliegen sollte. Jetzt wird das noch weiter in die Zukunft verschoben.
Wobei das Konzept freilich auch etwas skizziert, was die Leipziger Nahverkehrsdiskussion verändert. Gerade die Diskussionen um den Promenadenring und den Problempunkt am Hauptbahnhof haben gezeigt, dass das Leipziger Stadtgebiet eigentlich in zwei Teile zerfällt, die völlig unterschiedliche Entwicklungen genommen haben. Das äußere Stadtgebiet, in dem Nahverkehrsleistungen sogar zurückgegangen sind, dafür der Pkw-Besitz drastisch zugelegt hat.
Und ein ziemlich großes Innenstadtgebiet, in dem sich die Verkehrsintensität massiv erhöht hat – die Bewohner aber nachweislich immer öfter auf Rad und ÖPNV umsteigen und auf das Automobil verzichten. (Die beigegebene Karte zeigt das recht anschaulich.)
Und diese erweitere Innenstadt wird von den Verkehrsplanern jetzt verstärkte Aufmerksamkeit bekommen.
Im Stadtentwicklungskonzept heißt es dazu: „Die erweiterte Innenstadt, die im Fachkonzept z. T. bis zum Tangentenviereck reicht und damit über das fachübergreifende Schwerpunktgebiet hinausgeht, weist eine Vielzahl an Herausforderungen auf. Diese Herausforderungen sind aufgrund ihrer Komplexität nur durch gesonderte integrierte Konzepte zu lösen, die zwar vorrangig die sektoralen verkehrsplanerischen Aufgaben aufgreifen (z. B. der Umgang mit Großveranstaltungen rund um das Sportforum), aber gleichzeitig z. B. städtebauliche, strukturelle oder ökologische Ziele und Handlungsansätze verfolgen.
Die Stadt Leipzig beabsichtigt, ein Verkehrskonzept für die erweiterte Innenstadt zu erstellen. Bis Ende 2019 soll das 2018 im Entwurf vorzulegende Konzept ein geeignetes öffentliches Beteiligungs- und Beratungsverfahren durchlaufen. Dabei soll die Machbarkeit umfassender Baumaßnahmen wie der Umbau des Promenadenrings im Umfeld des Hauptbahnhofs geprüft werden. Die verkehrlichen Auswirkungen der jeweiligen Varianten werden am Integrierten Verkehrsmodell der Stadt Leipzig (IVML) untersucht und unter Berücksichtigung der Verkehrsprognose 2030 bewertet. Die Entwicklung der an den Promenadenring angrenzenden Potenzialflächen wird sich auf die Kapazitätsentwicklung des Rings auswirken. Es wird die Notwendigkeit gesehen, die Verkehrsinfrastruktur entsprechend anzupassen resp. neu zu schaffen. Lösungen zur Reduzierung der Barrierewirkung des Promenadenringes sind zu entwickeln.“
Zwei klarte Botschaften also, die zwangsläufig in zwei große Verkehrsbauprojekte münden: der Umbau des Promenadenrings am Hauptbahnhof und eine Komplettanpassung des gesamten Innenstadtrings.
Denn der Schlüssel zur Lösung der zentralen Verkehrsprobleme ist der ÖPNV, der gerade auf dem Innenstadtring an seine Leistungsgrenzen gekommen ist. Um wirklich mal 23 bis 25 Prozent ÖPNV-Anteil in Leipzig zu bekommen, müssen auf dem Nadelöhr Innenstadtring mehr Bahnen in kürzeren Taktzeiten fahren können. Mit dem gegenwärtigen System ist das unmöglich. Logisch: der gesamte Innenstadtring muss neu organisiert werden.
Was eben auch hier „Qualifizierung und Ausbau des ÖPNV“ heißt mit: „Neuorganisation des ÖPNV auf dem Innenstadtring, Kapazitätserweiterung des zentralen ÖPNV-Drehkreuzes am Hauptbahnhof“.
Und was soll aus dem Kraftverkehr werden?
Auch der brauche eine bessere Organisation, stellt das INSEK fest, wenn auch nur in Stichpunkten: „leistungsfähiges und stadtverträgliches Hauptstraßennetz, darin: verkehrsorganisatorische Maßnahmen zur Optimierung der Netznutzung und zur Minderung der Verkehrsstärke an Hotspots (z. B. durch Verkehrsflussdosierung), Konzept Parkraummanagement und Parkraumbewirtschaftung Erweiterte Innenstadt“.
Nur eins wird deutlicher: Wenn Leipzig das Nadelöhr für den ÖPNV nicht aufweitet, dann lassen sich alle anderen Engpässe rund um den Ring auch nicht lösen. Nur beginnt jetzt so langsam die Zeit zu drängen. Denn wenn ein erstes Konzept Ende 2019 vorliegen soll, ist mit Stadtratsbeschlüssen und realen Planungen frühestens 2020/2021 zu rechnen. Und da ist noch lange nichts umgebaut.
Das wird noch eine ganz heiße Phase im nachhaltigen Mobilitätsleben der Stadt.
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Es gibt 2 Kommentare
Es ist alles nicht so traurig wie es dargestellt wird: Derzeit werden Mobilitätsszenarien seitens des VTAs (Verkehrs und Tiefbauamt) erstellt. Diese hat der Stadtrat auf Initiative von den GRÜNEN in Auftrag gegeben. Diese Szenarien verzögerten sich, da der OBM explizit bei der ersten Vorstellung in der Dienstberatung des OBM ein Radverkehrsszenario eingefordert hat. Dies hat er vor den Sommerferien an einem Sonntag quasi öffentlich gemacht, als er forderte Leipzig müsse zur Radstadt werden. Diese Forderung erhebt OBM Jung nun immer wieder, letztmalig bei der ADFC Bürgersprechstunde auf dem Rad in Gohlis. Dieses Radverkehrsszenario ist notwendig geworden, weil wir – und dazu gehört nur ein klein wenig Baukostenabschätzung – in einer wachsenden Stadt wie Leipzig schlicht kein Geld haben, Großinvestitionen zu tätigen. Wir müssen also in Leipzig mit dem vorhandenen Geld so effektiv wie möglich umgehen. Und ein Euro in den Radverkehr bewirkt viel mehr als ein Euro in den ÖPNV, der wiederum aber sinnvoller ist, als ein Euro für neue Straßen, wie es die IHK fordert. Zudem hat Leipzig, wie der Artikel richtig benennt, ein Zeitproblem: Aber auch hier gilt: Radverkehrsanlagen lassen sich viel schneller realisieren als neue Straßenbahngleise (oder Zugangsstellen: siehe das Trauerspiel um die Halte stelle Baaderstraße in Gohlis-Nord) oder gar Straßenbauprojekte.
Das führt zwar letztlich dazu, dass der ÖPNV Anteil in Leipzig wohl schwerlich auf über 20% steigen wird, was aber zu verschmerzen ist, wenn gleichzeitig der Radverkehrsanteil auf über 30% steigt und der Füßverkehrsanteil seine 25% behält …
Nächstes Datum zum Merken ist die Dienstberatung des OBM am 25.9. Dort sollen die Mobilitätsszenarien vorgestellt werden, die dann im Oktober im Stadtrat vorgestellt werden sollen.
Ich meide zwar solche Ausdrücke, aber hier wiehert der Amtsschimmel in der Verwaltung gewaltig.
Ein paar neue Abkürzungen, intensivst und sorgsam mit Fachausdrücken gespickte Formulierungen verleihen den Feststellungen fast wissenschaftlichen Charakter, zeugen jedoch in zutiefst deprimierender Weise von der Unfähigkeit, kreativ und offensiv neue Lösungen anzupacken. Es ist führwahr ein Trauerspiel; angesichts der sich täglich offensichtlich zuspitzenden Verkehrsprobleme und der völlig überforderten Stadtverwaltung. Und Stadtregierung.