Das Problem heutiger Politik ist, dass die eigentlichen Probleme statistisch immer mehr versteckt werden. Bis man sie gar nicht mehr sieht. Das ist bei der manifesten Armut genauso wie in der Bildungsmisere und im Verkehr. Das wird selbst beim Radverkehr deutlich. Denn wenn man alle befragt, zerleppert das Problem. Wenn man die direkt Betroffenen befragt, gibt es ein vรถllig anderes Ergebnis.

Aber es tut sich was. Lange genug hat es ja gedauert, das Thema Radverkehr รผberhaupt auf die Entscheiderebene der Leipziger Politik zu hieven und deutlich zu machen, dass das Radwegenetz dringend erweitert, verbessert und von Gefahrenstellen entschรคrft werden muss. Wirklich angekommen ist das Thema erst seit fรผnf Jahren. Und jede neue Diskussion um verfรผgbare Gelder und Schaffung eines groรŸen, belastbaren Radnetzes zeigt: Der Weg ist noch weit. Gerade bei neuen Vorschlรคgen fรผr Verbesserungen im Radwegenetz lodert fast automatisch ein Aufschrei der Autofahrerlobby auf, der darin den absoluten Verkehrskollaps vermutet.

Ergebnis: Das Netz ist noch immer Stรผckwerk mit ungelรถsten Gefahrenstellen, ignoranten รœbergรคngen, fehlenden Zwischenstรผcken und immer wieder viel zu geringem Querschnitt. Aber da die Verwaltung das Thema auf der Agenda hat, wรคchst die Zustimmung. Waren 2011 noch 31 Prozent der Leipziger mit den Bedingungen des Radverkehrs zufrieden oder gar sehr zufrieden, so stieg der Wert 2016 erstmals auf 41 Prozent. Es geht voran. Aber die vielen โ€žteils/teilsโ€œ-ร„uรŸerungen (44 Prozent) zeigen eben auch, wie sehr das Ganze noch als Flickwerk empfunden wird.

Das geht beim โ€žAngebot von Radverkehrslagenโ€œ weiter, wo die Zufriedenheit von 31 auf 40 Prozent stieg. Gerade 2016 gab es einen deutlichen Sprung. Bei den Abstellmรถglichkeiten stieg der Wert auf 39 Prozent, nachdem er 2013 und 2014 sogar unter die 30-Prozent-Marke gefallen war. Was mit dem enormen Wachstum an Radverkehr zu tun hat: Wo mehr Menschen auch zur Arbeit mit dem Rad fahren, werden zwingend mehr Abstellmรถglichkeiten gebraucht.

Aber je mehr Leipziger mit dem Rad fahren, umso mehr merken auch, wie viel im Netz noch fehlt. Die Zufriedenheit der Radfahrer selbst mit dem Fahrradnetz liegt mit 32 Prozent deutlich unter der Gesamtzufriedenheit. Gerade im Alltag, wenn die StraรŸen auch vom Pkw-Verkehr belastet sind, zeigt sich, wie eng es an vielen Stellen zugeht, wie oft Radfahren behindert und ausgebremst wird und vor allem der Raum fรผr wachsende Zahlen von Radfahrern fehlt.

Erstaunlich ist dann, dass die Zufriedenheit mit Abstellanlagen bei Viel-Radfahrern deutlich hรถher ist als in der Allgemeinheit. Sie merken sehr deutlich, dass die Stadt gerade bei der Schaffung neuer Abstellmรถglichkeiten viel getan hat in den vergangenen Jahren. Radfahrer mรถgen Baubรผrgermeisterin Dorothee Dubrau deshalb, wรคhrend Autofahrer ihren Frust รผber die Entwicklung regelmรครŸig in der autofahrerfreundlichen Zeitung ablassen. Denn natรผrlich geht dabei auch gรผldener Parkraum fรผr Nobelkarossen verloren. Wo ein Auto parken kann, finden locker 20 Fahrrรคder einen Platz. Die Gewichte verschieben sich.

Aber damit werden auch die Konflikte sichtbarer.

Das wird besonders deutlich, wenn die Leipziger gefragt werden, ob โ€žgenรผgend fรผr den Radverkehrโ€œ getan werde.

Wenn man alle nimmt โ€“ und da stecken nun einmal auch die eingefleischten Autofahrer mit drin โ€“ dann wird es von Jahr zu Jahr besser. Aus Autofahrersicht sogar viel zu gut: 15 Prozent der Befragten meinen tatsรคchlich, es werde viel zu viel fรผr Radverkehr getan. Bei den seltenen und den Nichtfahrern sind es sogar 26 Prozent. Man ahnt den Konflikt, wie er sich zuletzt in der Diskussion um die neue Haltestelle an der Axis-Passage in der Georg-Schumann-StraรŸe ausgetobt hat. Autofahrer und Radfahrer leben in vรถllig verschiedenen Welten und gerade Autofahrer empfinden das Wachsen des Radverkehrs als Bedrohung fรผr ihre eigene Bewegungsfreiheit.

Je รถfter Leipziger freilich mit dem Rad unterwegs sind, umso mehr stellen sie natรผrlich fest, dass das, was nach โ€žvielโ€œ aussieht, in der Breite tatsรคchlich viel zu wenig ist. Das Radwegenetz wรคchst nicht mit den Nutzerzahlen. Deswegen meinen dann 65 Prozent der (Viel-)Radfahrer, dass fรผr den Radverkehr zu wenig oder viel zu wenig getan werde. Bei den Wenig-Radfahrern sagen das nur 23 Prozent.

Und noch ein erstaunliches Ergebnis gibt es dabei: Wรคhrend die Mehrheit der Leipziger das Gefรผhl hat, es werde viel fรผr den Radverkehr getan und diese Einschรคtzung sich auch von Jahr zu Jahr verbessert, ist bei Viel-Radfahrern die gegenlรคufige Entwicklung zu sehen: der Wert sinkt. Immer weniger Leipziger, die regelmรครŸig unterwegs sind, meinen, dass genug fรผr den Radverkehr getan wird.

Das heiรŸt: Mit dem Anwachsen der Nutzerzahlen (und damit auch des Fahrrad-Wertes im vieldiskutierten Modal-Split) steigt auch die berechtigte Erwartungshaltung, dass das Radnetz mitwรคchst, Gefahrenstellen und รœbergรคnge entschรคrft werden. Ein Thema, das ja gerade in den letzten Monaten hochkochte, seit es wieder mehr tรถdliche Fahrradunfรคlle in Leipzig gibt โ€“ und das auch noch an Stellen, die seit langem als Gefahrenstellen bekannt sind. Es wird hรถchste Zeit fรผr ein wirklich zukunftsfรคhiges Radnetz. So viel Zeit, wie die Verwaltung glaubt, hat sie gar nicht mehr.

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Es gibt 4 Kommentare

Jetzt hab ich mich grad kurz gewundert, wann ich hier kommentiert hab. Mich gibts ja zweimal.^^
Das ist ein wenig verwirrend.^^

In der Diskussion um ein โ€œRadnetzโ€ steckt m. E. der fatale Fehler, dass man das bestehende Netz, nรคmlich die StraรŸen, ohne Not kampflos den Autos รผberlรคsst. Wenn viel mehr Fahrrรคder auf den StraรŸen unterwegs wรคren, kรถnnten die Motorisierten sie nicht mehr als โ€œExotenโ€ an den Rand drรผcken, sondern mรผssten sie als gleichberechtigte Verkehrsteilnehmer akzeptieren und dann wรผrde auch eine Anpassung z. B. der Ampelphasen an die dann naturgemรครŸ geringere FlieรŸgeschwindigkeit nicht lange auf sich warten lassenโ€ฆ

Was auch oft nervt, neben der manchmal unsinnigen Wegfรผhrung oder plรถtzlich endenden Wegen sind die vielen schlecht auf Radfahrer und FuรŸgรคnger abgestimmten Ampelanlagen.
Ich wage zu behaupten, wenn Autofahrer sich mit Bettelschaltern oder sonstigen Schikanen, wie der oft merkwรผrdigen Routenfรผhrung der Radwege zum Linksabbiegen rumzuรคrgern hรคtten, wรผrden sie aber ziemlich schnell und lautstark ihrem ร„rger Ausdruck verleihen.
Als Radfahrer oder FuรŸgรคnger ist es eben leichter seinen Frust in Form von โ€œich geh/fahr jetzt eben bei Rotโ€ oder โ€œich fahr mal ein Stรผck auf dem Radweg in der falschen Richtungโ€ loszuwerden, um schneller voranzukommen. Gehรถr bei zustรคndigen Stellen ist schwer zu finden, schon erst mal herauszubekommen wo man sich รผber Ampelphasen ist nicht einfach.

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