LEIPZIGER ZEITUNG/Auszug Ausgabe 43Es ist morgens sechs Uhr an der โinneren Jahnalleeโ. Die Stadt erwacht allmรคhlich zum Leben, auch auf dem kleinen Teilstรผck der Jahnallee zwischen der Leibnizstraรe und dem Waldplatz. Wenn man die Augen schlieรt, klingt der kurze Straรenabschnitt bereits zu dieser frรผhen Morgenstunde ein bisschen nach dem Rauschen des Meeres. Nur der Geruch ist eher salzlos und feinstaubgeschwรคngert, die Scheiben der Bistros und Ladengeschรคfte sind wie stets ein wenig schmutzverkrustet vom Dreck der letzten Wochen.
Auch an diesem 16. Mai wird die Maisonne eher von ihnen verschluckt als reflektiert, es ist der Werktagsverkehr, welcher Minute um Minute lauter erwacht, wรคhrend die Sonne quer in die Straรenflucht lugt. 15.550 Autos passieren am Tag diesen Teil des Leipziger Straรennetzes, sagt Michael Jana, Leiter des Verkehrs- und Tiefbauamtes, wenn er die โAnalyse der Querschnittsbelastung (Mรคrz 2016) in der inneren Jahnalleeโ zitiert. Wie viele Radfahrer es sind, hat noch keiner so richtig gemessen auf diesem Abschnitt fern von Radwegen und Trennstreifen.
Die Verengung ist die Haupttangente zwischen Innenstadt und den Stadtteilen Lindenau und Plagwitz im Leipziger Westen. Zu- und Abfahrtsort fรผr tausende Fuรballfans, wenn sie am Wochenende ins Stadion oder zu Konzerten strรถmen. Und Handelsstraรe, Ladenmeile, Spรคtverkaufseldorado, Sky-Kneipentreffpunkt, Hipsterkernzone rings um das beste Pizza-Schnellrestaurant der Stadt und blitzschnelle Dรถnerschnippler nicht nur im Sommer. Spรคtestens ab Mai auch Freisitzareal auf Dieselauspuffhรถhe fรผr Abendgรคste und besoffene RB-Fans, die hier gern mal unter dem Fallenlassen der Bierpulle bis in den Morgen in die Seitenhรถfe zum Wasserabschlagen torkeln.
Dann wieder ein tiefes Grollen, fast wie ein sattes Brandungsgerรคusch am Atlantik gegen 6:10 Uhr. Nur ohne Mรถwen, dafรผr ein leichter Staubgeschmack im Mund.
โTรคglich passieren mehr als 800 Straรenbahnen der Linien 3,4, 7, und 15 den Abschnitt `innere Jahnallee`, hat Marc Backhaus von den Leipziger Verkehrsbetrieben zurรผckgeschrieben. Da kommt wieder eine von ihnen, eine von 800 am Tag, 33 in der Stunde ohne Stoรzeiten, diese eine aller zwei Minuten an diesem 16. Mai 2017. Am Waldplatz biegt sie Richtung Gohlis in die Waldstraรe, flankiert von den statistisch minรผtlichen 10,8 Autos abzรผglich der weitgehend ruhigen Zeit zwischen 1 und 5 Uhr in der Frรผhe. Sagen wir einfach, jetzt sind es unter genauer Zรคhlung locker 30 bis 40, die sich noch vor der Rush-Houre hier pro Minute die Spur mit der Bimmel teilen.
Ab da rollt die Linie 4 wieder weitgehend allein Richtung Norden an diesem Morgen, die meist einzeln benutzten Autos rollen eher geradeaus Richtung City oder Lindenau.
Vor dem neuen Burgerrestaurant packt sich ein Mann eine Schweinehรคlfte auf die Schulter und schleppt das ermordete Nutztier in den Liefereingang, wรคhrend sein Kollege die halbierten Kollegen vom Getragenen noch mal durchzรคhlt. Das Nummernschild des Lieferwagens ist nicht zu erkennen, Stoรstange an Stoรstange stehen parkende Autos wie eine Perlenkette aus der Sรผdsee aufgereiht am Gehsteig.
Das am Vorabend abgestellte, versammelte Blech blinkert in die Sonne zurรผck. Auf den Straรenschildern ist Park- und Halteverbot bunt gemixt, ab 6 Uhr darf der Lieferverkehr fรผr die Lรคden der Straรe hier halten, wo kaum Platz ist. Mit Parkuhr, fรผr eine Stunde, ab 6 Uhr. Die Parkscheiben der meisten stehen auf 8:30 bis 9 Uhr. Auch nach 10 stehen viele der abgestellten Pkw noch am Einfallstor der โinneren Jahnalleeโ.
Offenbar kรถnnen hier einige nicht rechnen. Und haben die 2006 ausgesprochene Einladung der Stadtplaner bereitwillig angenommen und dabei eine der schรถnsten Todesfallen der Stadt aufgebaut.
Ein erster Radfahrer zischt vorbei โฆ
Wie eine steife Brise, wenn sie etwas Gischt in sich trรคgt. Und versucht sich in jenem offiziell gewollten Parcour, der am 1. Mai 2017 einer jungen Frau fast das Leben genommen hรคtte. Fรผr regelgerechtes Verhalten besteht ab jetzt kaum noch eine Chance fรผr ihn. Wie fรผr die 23-Jรคhrige, die am Arbeiterkampftag nur knapp dem Tod durch die Straรenbahn entkam.
1. Mai 2017, kurz nach 10 Uhr am Morgen: Es klingelt noch anhaltend und aggressiv. Dann steht die Linie 4 nach der Notbremsung wie festgefahren still. Menschen laufen hektisch durcheinander, Einsatzwagen kommen, Decken werden ausgebreitet, die Feuerwehr ist da. An den Fenstern ein paar Menschen, die wenig รผberrascht auf die Straรe hinunterblicken.
Nur einen Tag zuvor hat eine Straรenbahn wenige Meter weiter einen abbiegenden Pkw gerammt, das Klingeln kennt รผber kurz oder lang jeder, der an der inneren Jahnallee wohnt. Ein Fahrrad und eine junge Frau liegen auf der Straรe, die Bahn steht praktisch รผber ihnen. Am gleichen Tag schreibt die LVZ im Polizeideutsch: โIn Hรถhe der Leibnizstraรe und Jahnallee wechselte die Frau den Fahrstreifen und fuhr dabei vor der Straรenbahn in den Gleisbereich. Dort kam sie ins Straucheln und stรผrzte. Der Tram-Fahrer konnte noch eine Gefahrenbremsung einleiten, doch die Radlerin geriet trotzdem unter die Bahn.โ
Bevor man von weiblicher Unlenkbarkeit ausgeht, wie sie bereits in dieser umgeschriebenen Polizeimeldung enthalten ist, kรถnnte man sich an dieser Stelle mal die Situation nรผchtern anschauen.
Der immer gleiche Versuchsaufbau fรผr die Schwรคchsten
Eine vierspurige Straรe, auf welcher, analog zur Georg Schwarz-Straรe und anderer Magistralenverengungen, je zwei Spuren dauerhaft zugeparkt sind. Auch wenn nicht urplรถtzlich ein aussteigender Autofahrer die Tรผr aufreiรt, verbleiben keine 60 Zentimeter zwischen Pkw und Bahn. Nicht durch Lieferverkehr bedingt, sondern durch parkende Autos der Anwohner, die morgens nicht vor 6 Uhr aus den Federn kommen. Und parkende Kunden der Ladengeschรคfte bis an die jeweiligen Verengungen Waldplatz und Leibnizstraรe heran. Exakt da, wo die Verengung beginnt.
Weshalb Michael Jana auf LZ-Nachfrage eine weitere Untersuchung in Aussicht stellt, nachdem er versucht, die Situation mit denen โรผberall im Stadtgebiet und grundsรคtzlich nicht vermeidbar, wo Geschรคfte beliefert werden mรผssenโ zu erklรคren.
Denn genau in den parkenden Autos liegt das Problem und letztlich bricht jeder Radfahrer, der hier nicht auf die Straรenmitte wechselt (und so den gesamten Verkehr ausbremst) das Gesetz. Wie auch Alexander John vom ADFC Leipzig bestรคtigt. โIn der Jahnallee ist die Situation fรผr Radfahrende sehr ungรผnstig. Die Radfahrenden mรผssen im Gleisbereich fahren, um den gesetzlich vorgeschriebenen Sicherheitsabstand zu den parkenden Autos einhalten zu kรถnnen. Gleichzeitig auch, um das รberholtwerden durch die Straรenbahn mit zu geringem Abstand zu verhindern. Das trauen sich viele Radfahrende nicht.โ
Mit anderen Worten: Die 23-Jรคhrige hat am 1. Mai alles richtig gemacht, indem sie auf die schmale Spur zwischen den beiden Straรenbahngleisen zu wechseln suchte. Die รผberrollende Bahn hรคtte den Sicherheitsabstand wahren mรผssen, der parkende Pkw an der Leibnitzstraรe stand mal wieder von Politessen unbehelligt seit Stunden nur so da.
Und die Stadt schaut einem Feldversuch ohne bisherige Prรผfung zu und zรคhlt nur Unfรคlle mit Personenschaden. Wรคhrend man versucht, sich alles mit Hรคndlerinteressen zu erklรคren, die 2006 fรผr das Parken protestierten.
Unterdessen ist RB Leipzig hinzugekommen, zwei weitere Kreuzungen ohne Ampeln lassen den Parcour zur Spaรzone fรผr Lebensmรผde werden. An einer der Kreuzungen steht leicht nach hinten versetzt die Lessingschule, eine Grundschule mit derzeit 330 Jungen und Mรคdchen.
Und ab und zu liegt halt jemand unter einer Straรenbahn.
Der Beitrag ist aus der aktuellen LEIPZIGER ZEITUNG, seit 19. Mai im Handel
Leipziger Zeitung Nr. 43: Leipzig zwischen Wissen und Glauben
So kรถnnen Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstรผtzen:
Keine Kommentare bisher