Ist mit „Wiener Modell“ der Filmklassiker von Regisseur Ernst Martin aus dem Jahr 1939 gemeint? Oder geht es um einen Akkordeontyp? In Leipzig wird eher hinter vorgehaltener Hand vom „Wiener Modell“ gesprochen, wenn es um die Finanzierung des Öffentlichen Nah- und Personenverkehrs in der Hauptstadt Österreichs geht. Eine Art solidarische Flatrate für Menschen, die in der Stadt leben und intensive Nutzer des öffentlichen Nahverkehrs (ÖPNV) sind. In Wien geht das für einen Euro am Tag für alle Bürger.
„Der Begriff ‚Wiener Modell‘ ist uns nicht geläufig“, sagt der Pressesprecher der Wiener Linien, Dominik Gries. Er erklärt: „Die Wiener Linien haben im Jahr 2001 einen Verkehrsdienstevertrag mit der Stadt geschlossen, der die allgemeine Finanzierung unserer Leistungen regelt und auch Besonderheiten wie Abgeltung von Sozialtarifen mit einschließt. Dieser Vertrag wurde durch die Tarifanpassung 2012 nicht verändert. Lediglich der Ausgleich für die Verbilligung der Jahreskarten und der Monatskarte wurde zusätzlich vereinbart und führte zu einer Anhebung des Zuschusses der Stadt Wien.“
Gries vertieft, dass es in Wien – wie in Leipzig im übrigen auch – den politischen Willen zu einer Mischfinanzierung für den Öffentlichen Verkehr aus Ticket- und Steuergeldern gibt. 60 Prozent der laufenden Betriebskosten werden aus den Ticketverkäufen erlöst. 40 Prozent der Betriebskosten stammen laut Gries aus dem Betriebskostenzuschuss aus Mitteln der Stadt Wien. Zum Vergleich – durch die hohen Ticketpreise und die eingefrorenen Zuschüsse der Stadt Leipzig in Höhe von 45 Millionen pro Jahr ist der Anteil der Finanzierung durch die Fahrgäste in Leipzig mittlerweile bei 70 Prozent und steigt weiter.
Und in Wien? „Für größere Anschaffungen ist regelmäßig ein Investitionszuschuss vorgesehen, etwa für die Anschaffung neuer Fahrzeuge oder Investitionen in die Infrastruktur. Für Großprojekte wie den Bau neuer Straßenbahnstrecken gibt es Sonderzuschüsse“, so Gries.
Was genau mit dem „Wiener Modell“ gemeint ist, kann man simpel zusammenfassen
Die Einwohner der österreichischen Landeshauptstadt können für einen Euro am Tag fahren, wenn sie ein Jahresticket im Wert von 365 Euro lösen. Das heißt, rund um die Uhr und Tag für Tag für wenig Geld Tram, Bus, U-Bahn und Regionalbahn nutzen. Damit liegt dieser Preis in der Höhe, für welche es nach der neuen Preissteigerung in Leipzig das „Sozialticket“ für Berechtigte (Leipzig Pass-Inhaber) zum Preis von 29,50 im Monat gibt. Im Klartext: Ein Wiener fährt zum Leipziger Sozialtarif, unter anderem für Hartz IV–Empfänger, durch die Gegend.
„Die Preisreduktion der Jahreskarte von ursprünglich 449 auf 365 Euro war eine politische Entscheidung der Stadtregierung“, so Gries weiter. „Die dadurch auftretenden Mindereinnahmen von mehreren Mio. Euro werden von der Stadt Wien ausgeglichen.“ Denn eines ist auch richtig. Mehrnutzungen der Bahnen und Busse führen zu höherem Verschleiß, bei hoher Nachfrage müssen Taktzeiten verdichtet werden und mehr Busse und Bahnen eingesetzt werden.
Doch auch in Bayern überlegt man. So berichtete die Bayrische Staatszeitung bereits im Februar 2014, dass das ÖPNV-Modell von Wien für bayrische Kommunalpolitiker ebenfalls von großem Interesse ist. Warum? Durch eine breite Finanzierung verbilligt sich der Ticketpreis erheblich. Was in Leipzig anders als in Wien ist und die LVB zu einer noch unterlassenen eigenen Berechnung führen müsste: Leipzigs Beförderungsquote ist wesentlich kleiner. Rund 900 Millionen jährliche Fahrgäste nutzen das Wiener Liniennetz. Im Vergleich dazu verzeichnet Leipzig rund 140 Millionen Fahrten mit Bus und Tram pro Jahr (Vergleichsstand ist 2013).
Dass dennoch etwas nicht stimmt in Leipzig zeigen folgende Zahlen. Auf 1,84 Millionen Wiener entfallen so 489 Fahrten pro Kopf und Jahr. In Leipzig sind es bei grob 570.000 Einwohnern pro Kopf 246, also nur knapp die Hälfte.
„Nebeneffekte“ für Feinstaub und Einnahmensprung
„Der Individualverkehr und die Umweltbelastung gehen zurück“, lautet die Botschaft von Wiens Vizebürgermeisterin Maria Vassilakou (Grüne) zur Einführung der niedrigeren Abo-Preise. Statt vorher 350.000 Dauerkartenbesitzer sind, laut den Wiener Verkehrsbetrieben, heute 550.000 Abonnenten mit dem ÖPNV unterwegs.
Leipzig hat seit Jahren ein Problem mit der Feinstaubbelastung – unter anderem durch einen hohen Kfz-Verkehr. Was die Wiener Vizebürgermeisterin mit „Umweltbelastungen“ meint. Und das, obwohl die Verkehrsbetriebe mit 1.300 Kilometern Streckennetz noch vor Wien (rund 950 Kilometer inkl. U-Bahn) liegen, also gute Gründe für Umsatzsteigerungen angesichts der Instandhaltungskosten hätten.
Bis zur Einführung des „Wiener Modells“ 2012 hatten die Bürger analog zu Leipzig mit jährlichen Fahrpreiserhöhungen zu rechnen. 2011 betrugen die Einnahmen nach altem Finanzierungsmodell der Verkehrsbetriebe 458 Millionen Euro. Ein Jahr später, nach der Preissenkung durch die Einführung des verbilligten Jahresabos von 365 Euro, statt der üblichen 460 Euro, folgte die Überraschung.
Nun betrugen die Einnahmen 484 Millionen Euro. Die Einnahmen waren um 5,7 Prozent gewachsen – eine Nachricht, die in Leipzig nahezu ausgeschlossen ist, da jede Preiserhöhung den Fundus an Kunden eher verkleinert. Und dies trotz wachsender Einwohnerzahlen – eigentlich ein Armutszeugnis.
Die ursprünglich geplante Erhöhung des Jahresabo-Preises konnten die Wiener Linien wieder absagen, weil die Einnahmen sprudelten. Weitere Maßnahmen: Neben der drastischen Preissenkung des Jahres-Abos, wurden die Einzelticketpreise leicht erhöht. Angesichts der derzeitigen Preise in Leipzig fast unnötig – in Wien fuhr man für 2,20 Euro, als in Leipzig die Uhr bereits auf 2,40 Euro stand und nun bei 2,60 Euro ab 1. August 2016 landen wird. Dadurch wurde der Wiener Abo-Preis noch attraktiver. Gleichzeitig wurden die Autoparkgebühren erhöht und Falschparker härter sanktioniert. Das „Wiener Modell“ ist vor allem für die Wiener von Vorteil, während Durchreisende und Touristen von den Vorzügen des 1-Euro-am-Tag-Fahrens nicht profitieren. Sie müssen die teueren Einzeltickets kaufen.
In Leipzig gebe es für diesen Bereich seit einem knappen Halbjahr die „Abo-Flex“-Angebote, mit welchem man gegen Zahlung von 4,90 Euro 25 Prozent bei den Einzeltickets einsparen kann. Derzeit die einzige kreative Idee der Leipziger Verkehrsbetriebe, wenn es um Fahrpreise geht – bei den gewährten Rabatten hat man den Preis flott mit 2 bis 3 Einzelfahrten wieder drin. Was den in Leipzig lebenden Vielfahrern dennoch nichts nützt.
Einfach und klar statt kompliziert und teuer
Im Vergleich zu Wien wirkt das Leipziger Tarif- und Ticketpreissystem äußerst unübersichtlich – und verteuert sich jährlich. Für den Tarif ABO-Basis muss ein Leipziger ab dem 1. August 2016 nun sogar stolze 658,80 Euro auf den Verkaufstisch legen. Kauft ein Leipziger jeden Monat eine Monatskarte im Wert von 71,80 Euro verteuert sich der Preis nochmals erheblich: aufs Jahr hochgerechnet 861,60 Euro kostet seine Nutzung von Bus und Tram im Jahr bei diesem Tarif. Grob zusammengefasst: Der Leipziger zahlt in dieser Vergleichsgruppe mal eben mehr als das Doppelte für die ÖPNV-Nutzung als ein Wiener.
Das von den Mitteldeutschen Verkehrsbetrieben vorgeschlagene Bürgerticket für die Messestädter kann so gesehen nur der Anfang einer spannenden Solidaritäts-Diskussion sein. 20 Euro pro Monat und Einwohner bedeuten in dem Fall eine sehr breite Basis für die Finanzierung des Leipziger ÖPNV. 2015 forderten die Leipziger Grünen eine offene Debatte über ein Bürgerticket zur Finanzierung des öffentlichen Nahverkehrs, aber eher mit dem Blick nach Berlin und der dortigen Diskussion.
Als Zwangsabgabe und damit als ungerecht und auch juristisch heikel, da doch eher als Steuer empfunden, bietet es nur leider keine solide Grundlage für eine realistische Umsetzungsperspektive. Vor allem nicht im kommunalen Rahmen, wo Abgaben erhoben werden können, nicht jedoch neue Steuern für jedermann eingeführt werden dürfen. Bliebe eine ernsthafte Diskussion über neue Abo-Modelle, die von selbst hohe Attraktivität entfalten und so manche Stadtfahrt mit dem Pkw obsolet machen könnten.
Die Tabelle mit den Fahrpreisen ab 1. August 2016 in Leipzig
Der Beitrag erschien erstmals im Juni 2015 in der LEIPZIGER ZEITUNG und wurde hier um einige aktuelle Informationen ergänzt. Wichtig ist der Redaktion der L-IZ.de vor allem der beschriebene Übergang von „Normalfinanzierung“ und Umstieg auf die als Flatrate für Wiener Bürger zu sehende Finanzierung von einem Euro am Tag und die finanziellen Folgen. Und die bislang fehlende Debatte über nachhaltige Alternativen neben der Frage der zu geringen Zuschüsse von Stadt und Land Sachsen für den ÖPNV in einer wachsenden Stadt wie Leipzig.
Lesen Sie dazu auch “Ein weiterer LZ-Artikel mit Ewigkeitsgarantie? Jährliche Fahrpreiserhöhungen der LVB: Wiener Modell für Leipzig offenbar „undenkbar“
Jährliche Fahrpreiserhöhungen der LVB: Wiener Modell für Leipzig offenbar „undenkbar“
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