In der LEIPZIGER ZEITUNG war auch dieser Artikel im Juni 2015 schon einmal erschienen. Ein Beitrag über die wachsende Hilflosigkeit des Mitteldeutschen Verkehrsverbundes und eine eventuelle Lösung namens „Wiener Modell“. Gerechnet hat es für Leipzig offenbar bis heute niemand – stattdessen gehen die Abopreise ab 1. August 2016 teils kräftig nach oben. Während in Leipzig immer wieder einmal die reichlich fruchtlose Debatte über das durch eine kommunale Zwangsabgabe finanzierte „Bürgerticket“ wabert und die Leipziger Verkehrsbetriebe mit dem „Abo-Flex“-Angebot einen ersten Schritt unternahmen, fehlt eine nachhaltige Lösung für die ÖPNV-Finanzierung nach wie vor.
Zeit also, einen weiteren fast ein Jahr alten Artikel zu recyclen und zu ergänzen. Am 5. Juni 2015 war für die Leipziger Verkehrsbetriebe so etwas wie die jährliche Stunde der Wahrheit. 2016 zogen sie die Verkündung der Erhöhung dann gleich mal auf den 24. März vor.
Doch bei der Vorstellung der Jahresbilanz 2014 war Wichtiges gesagt worden. Wer aufmerksam lauschte, konnte vor allem eines heraushören: Die Fahrgastzahlen sinken, die Preise steigen, die LVB sehen sich und den öffentlichen Nahverkehr auf Kurs. Von 142,2 Millionen sank die Zahl der Beförderungsfälle da auf 136,2 Millionen. Man kann sich ausrechnen, dass rund 16.500 Kunden am Tag der LVB an die S-Bahn oder andere Verkehrsarten wie Rad, Auto und erhöhter Lauferei verloren gingen. Die LVB-treuen Leipziger haben 2014 gemeinsam mit den hereinströmenden Touristen das drohende finanzielle Loch erneut gestopft.
Am 24. März 2016 kam nun die erwartete, nächste Preiserhöhung für einzelne Tickets, auch beim Stundenfahrschein gibt es wieder einen Aufschlag von 2,50 Euro auf 2,60. Die Begründung in diesem Jahr – die steigenden Löhne und Gehälter der Mitarbeiter der LVB. Überraschend erfuhr man da auch nebenbei, dass Subunternehmen nun zumindest Mindestlohn zahlen. Besonders betroffen aber sind erneut die Abonnenten und Monatskartenkunden. Auf 71,80 Euro geht es mittlerweile hinauf in Leipzig, ein Zuwachs um 2,80 Euro oder ganze 4 Prozent.
Dennoch hat unter dem Eindruck jährlicher Preissteigerungen über der Inflationsrate die Suche nach neuen Ideen längst begonnen. Wenn auch zart und nicht bei jedem wächst das Pflänzchen der Erkenntnis, dass es ein weiter so irgendwann nicht mehr geben könnte. Zumindest das „Abo-Flex“-Angebot entlastet Gelegenheitsfahrer. Ob dies jedoch der richtige Hebel für die LVB ist, scheint fraglich. Die Leipziger wollen eher vernünftige Abo-Modelle, denn sie nutzen die Bahn (noch) für den Arbeits- und Schulweg.
Mal gerechnet oder einfach gleich weggebügelt?
Bereits in ihrer zweiten Ausgabe 2015 stellte die Leipziger Zeitung das „Wiener Modell“ vor. Damit haben es die Wiener Verkehrsbetriebe ab 2011 geschafft, den Wienern mit einem Jahrespreis von 365 Euro ein einheitliches, einfaches und vor allem günstiges Jahresabo anzubieten (eine genauere Beschreibung ist hier auf der L-IZ.de zu finden). Die Ticketpreise hielten die Wiener Verkehrsbetriebe seither stabil und die Jahreskundenzahl steigerte sich von 350.000 auf 550.000 massiv. Dennoch fahren in Wien keine alten Schrottschaukeln herum, selbst der Umsatz ist gewachsen. 30 Millionen Euro mehr statt weniger können die Wiener Verkehrsmanager jährlich verbuchen.
Bereits 2015 trat die Redaktion an die LVB mit den Fragen dazu heran und erhielt zum damaligen Zeitpunkt ausweichende Antworten. „Ich kenne das Wiener Modell“, sagte Ulf Middelberg am Rande der LVV-Jahrespressekonferenz am 5. Juni 2015 im Neuen Rathaus auf Nachfrage. Seit 2011 ist er einer der drei Geschäftsführer der Leipziger Verkehrsbetriebe. „Es setzt auf eine klare Preis-Mengen-Strategie, mit – meiner Kenntnis nach – einem extrem günstigen Abo. Man setzt darauf, ein Mehr an Nachfrage zu erzielen, mehr Erlöse zu generieren und am Ende wirtschaftlich gut dazustehen.“ Dazu kamen die Wiener, als sie 2011 an einer ähnlichen Stelle standen, wo sich die LVB bis heute aufhält. Als eine Preiserhöhung der Jahreskarten von 460 auf 500 Euro pro Jahr anstand, dachte man um und führte ein Ticket zu 365 Euro ein.
Die Bedenken der Gegner sind heute obsolet
In der österreichischen Landeshauptstadt rechnen sich die günstigen Fahrpreise, der befürchtete Ruin der Verkehrsbetriebe blieb aus, der Zuschussbedarf nahezu konstant. Durch den Anstieg der Fahrgastzahlen wurde auch das vorgebrachte Argument, für Fahrgäste sei der Preis nicht so entscheidend wie die Qualität des Fahrangebots, widerlegt.
Überhaupt auch dies eine interessante Debatte: Wer sich kein Jahresabo leisten kann, dem ist die Qualität des Angebotes schnuppe – er stellt auf Fahrrad und Fußwege um. Selbst das Auto scheint angesichts der Dauertiefpreise an der Tankstelle und dem noch bequemen kostenfreien Parkplatz vor der Wohnungstür eine Alternative für den Einkauf um die Ecke.
Und in Wien? Der Jahresabo-Preis sank dramatisch, die Einzelfahrscheine kosteten trotz Preisanstiegs „nur“ 2,20 Euro. Im Vergleich dazu Leipzig mit 2,60 Euro ab August 2016 (2015 auf 2,50 von 2,40 hinauf) und einem Jahresabo-Basis-Angebot von nun 658,80 Euro und noch mehr, nämlich sagenhafte 861,60 Euro, wenn man alle 12 Mal ein Monatsabo kauft.
Denn exakt diese Abos und Monatskarten sind 2016 nahezu ausnahmslos erneut im Preis gestiegen. Ebenfalls in der Spitzengruppe das Premium-Abo nun mit 736,80 Euro im Jahr. Nur Rentner und Schüler fahren in der Messestadt weiterhin noch einigermaßen günstig, obwohl man hier auch bei der Einzelfahrt mit Umsteigen von 1 Euro auf 1,10 anhob und bei der 4er-Karte sogar um 40 Cent auf 4,40 Euro nach oben ging.
Eine Mengenstrategie, die mit etwas Willen funktioniert?
In Wien stieg die Zahl der verkauften Jahreskarten nach Einführung des 365-Euro-Tickets sprunghaft an – um 40 Prozent. Statistisch gesehen hat jeder dritte Wiener eine Dauerkarte. 77 Prozent der Neukunden gaben an, durch das 365-Euro-Ticket den ÖPNV mehr zu nutzen als vorher.
„Man kann sicherlich mehr einnehmen“, so Middelberg auf die Nachfragen im Juni 2015 weiter, „aber es lohnt ein zweiter Blick. Wo kommt diese Nachfrage her? Wir nennen das ‚Kannibalisierung‘. Dann wird es spannend, ob am Ende mehr Erlöse stehen und ob man dann das erforderliche Mehr an Kapazitäten aus den Erlösen finanzieren kann. Das braucht einen tieferen Blick und lässt sich in zwei Sätzen kaum beantworten. Wien hat schon seit langem eine U-Bahn-Abgabe zur Grundfinanzierung des Nahverkehrs, Wien wird als Bundeshauptstadt generell anders finanziert. Mit aller Vorsicht kann man sagen, dass allein aus mehr Nachfrage zusätzliche Kapazitäten nicht finanziert werden können. Das Wiener Modell ist kein Modell, dass man 1:1 ungesehen übertragen kann.“
Doch der Druck bleibt, neue Lösungen zu finden und bis zum heutigen Tage hat man neben diesen Bedenken von ernsthaften Berechnungen seitens MDV und LVB nichts gehört. Middelberg im Juni 2015: „Wir sind ja gerade dabei, mit den Kollegen des Mitteldeutschen Verkehrsverbunds Alternativen und alternative Finanzierungsformen zu prüfen.“
Und einfach rein in die nächste Preiserhöhung
Das bisherige Ergebnis war am 24. März 2016 aus der Gesellschafterversammlung des MDV zu vernehmen. Im Ergebnis der intensiven Überlegungen erhöhen sich die Preise für öffentliche Verkehrsmittel im Verbund ab 1. August 2016 durchschnittlich um 3,0 bis 4,2 Prozent – auch Halle hat, wenn auch auf niedrigerem Niveau, das gleiche Grundproblem. In Leipzig sind es 2016 nun 3,5 Prozent Anstieg. Aber die schönen Worte mit den jährlichen Begründungen dazu gab’s am 24. März 2016 wenigstens gratis. Neben kosmetischen Veränderungen und andauernden Preisauftrieb scheint gerade für Abonnenten der LVB zu gelten: Alle warten auf Godot in Form einer Zuschusserhöhung aus dem Steuersäckel. Und wer glaubt, dass dann die Preise für die Fahrgäste wieder sinken, der wartet zu Ostern wahrscheinlich wirklich auf den Osterhasen, wenn er Eier haben will. Oder zu Weihnachten auf einen gestrengen Herrn höheren Alters als Gast mit Sack und Rute.
Seit Jahren suchen die Verantwortlichen nun nach einer Lösung gegen die vielen bösen Gründe, wie Personalkosten (bei teils beschämend geringen Bezahlungen für die Frauen und Männer auf dem Fahrersitz), Fuhrparkerneuerung, Streckennetzpflege. Im Zweifel kann’s auch mal ein harter Winter sein, der die Bilanz verhagelt. Gefunden haben sie bislang immer nur eines: Mehr Geld vom Fahrgast und dies von besonders Abhängigen – eben jenen, die auf den ÖPNV angewiesen sind. Eine grundlegende Befassung scheint ebenso dringend nötig, wie ein Weg hin zu einer sozialverträglichen Variante für die Leipziger, die deutsche Spitzenpreise für ihre Bimmel zahlen. Und dies bei Löhnen, welche sich eben nicht in der gleichen deutschlandweiten Spitzengruppe bewegen.
Verlierer im Modal Split – auch Leipzig
Die Fahrgastzahlen haben in Wien seit der Einführung des 365-Euro-Tickets neue Rekordwerte von 907 Millionen Fahrgästen jährlich verzeichnet. Der ÖPNV-Anteil am Modal Split ist in der österreichischen Hauptstadt von 2011 auf 2013 um zwei Prozent auf 39 Prozent gestiegen. In Leipzig betrug der Modal-Split-Anteil von 1987 noch annähernd 35,1 Prozent. Seit der Wiedervereinigung bis 2008 sank der ÖPNV-Anteil auf 18,8 Prozent im Gesamtverkehrsanteil. Diese Zahl ist die zuletzt ermittelte für Leipzig.
Vielleicht aus guten Gründen. Und demnächst klopft vielleicht die Europäische Union an die Rathauspforte und möchte ein Bußgeld für nicht eingehaltene Feinstaubwerte verhängen, wenn sich nichts tut. Wäre aber vielleicht auch wieder nur ein Grund, die Preise im ÖPNV raufzusetzen (Begründung dann vielleicht zu viele Sonntage im Jahr?) und eine endlose Debatte um mehr kostenfreie Parkplätze für die Autos in den Wohngebieten, verstopfte Straßen und Parken auf Radwegen zu führen?
Oder eben transparent ein neues „Leipziger Modell“ rechnen. Dann gelten die Ausreden der scheinbar gänzlich unvergleichbaren Situation in Leipzig wahrscheinlich auf einmal nicht mehr.
Die neuen Preise des MDV ab 1. August 2016
Der Beitrag erschien erstmals im Juni 2015 in der LEIPZIGER ZEITUNG und wurde hier um aktuelle Informationen ergänzt. Wichtig ist der Redaktion der L-IZ.de vor allem der beschriebene Übergang von „Normalfinanzierung“ und Umstieg auf die als Flatrate für Wiener Bürger zu sehende Finanzierung von einem Euro am Tag und die finanziellen Folgen. Und die bislang fehlende Debatte über nachhaltige Alternativen neben der Frage der zu geringen Zuschüsse von Stadt und Land Sachsen für den ÖPNV in einer wachsenden Stadt wie Leipzig.
Lesen Sie auch dazu Leipziger ÖPNV in der Dauerschleife: Das Wiener Modell als Diskussionsansatz
Leipziger ÖPNV in der Dauerschleife: Das Wiener Modell als Diskussionsansatz
Keine Kommentare bisher