Wie ist das nun mit der Planbarkeit von Verkehrswegen? Und mit der Messbarkeit dessen, was die Leipziger als Verkehrsmittel bevorzugen? Selbst den Kollegen von „Bild“ interessierte der Aspekt im neuen „Trendreport“ der Stadt Leipzig bei der Vorstellung am 18. Februar: Warum verliert ausgerechnet der ÖPNV permanent Anteile an den Wegen zur Arbeit?

Darüber kann man mutmaßen. Eine mögliche Erklärung, so Dr. Andrea Schultz, Abteilungsleiterin Stadtforschung im Amt für Statistik und Wahlen der Stadt Leipzig, könnte ausgerechnet das seit 2005 spürbare Wirtschaftswachstum sein. Die neuen Gewerbegebiete und die großen Unternehmensansiedlungen entstanden vorwiegend im Leipziger Norden oder gar außerhalb der Stadtgrenzen. Da ist die ÖPNV-Anbindung dünner, die Menschen sind aufs Auto angewiesen, um zur Arbeit zu kommen.

Gleichzeitig sind die Pendlerzahlen gestiegen – sowohl die der Einpendler, die zur Arbeit von außerhalb in die Stadt kommen, als die der auspendelnden Leipziger, die in anderen Landkreisen und Bundesländern einen Job gefunden haben. Beides spricht für das Wirtschaftswachstum in der Region. Aber es erklärt den deutlichen Rückgang des ÖPNV (Straßenbahn, Bus, S-Bahn) an den Wegen zur Arbeit nur teilweise, denn wirklich zugenommen hat nicht der Anteil des Kfz-Verkehrs, sondern der von Rad- und Fußwegen. Denn das ist die eigentliche Aussage: Immer mehr Leipziger gehen zu Fuß oder fahren mit dem Rad zur Arbeit. Das spricht für kurze Arbeitswege und dafür, dass die Leipziger vor allem in der Stadt ihrer Arbeit nachgehen.

Denn der größte Arbeitgeber ist nur bedingt der Leipziger Norden – die Innenstadt bietet mindestens ebenso viele Arbeitsplätze. Was gern negiert wird: Hier sitzen die eigentlichen innovativen Unternehmen, darunter viele aus dem Cluster Kreative und IT. Das Bild vom autofahrenden Pendler, der zum Fließbandjob in den Norden fährt, ist nur ein Teil des Puzzles.

Das wird deutlicher, wenn man eine andere Grafik aus dem Trendreport betrachtet: „Pkw-Nutzung für den Weg zur Arbeit nach Geschlecht“.

Danach ist der Anteil der Männer, die mit dem Pkw zur Arbeit fahren, von 68 Prozent im Jahr 1995 bis 2014 auf 47 Prozent gefallen, ging also die ganze Zeit permanent zurück. Mit einigen Treppen und Kanten – etwa in den Krisenjahren 2001 und 2009. Aber 2014, als der Anteil noch einmal deutlich fiel, war kein Krisenjahr. Eher war es ein Feierjahr, weil endlich das Mitteldeutsche S-Bahn-Netz in Betrieb war. Gut vorstellbar, das viele Männer nun prima mit der S-Bahn zur Arbeit kommen.

Aber bei Frauen war die Kurve bis 2013 andersherum: Der Anteil der mit Pkw zur Arbeit fahrenden Frauen ist die ganze Zeit gestiegen – von 32 Prozent im Jahr 1993 auf 42 Prozent im Jahr 2013. 2014 gab’s nur einen leichten Abfall auf 41 Prozent.

Aber in den Industrieparks im Leipziger Norden, den Logistik-Terminals am Flughafen oder den großen Industrieansiedlungen bei Leuna und Bitterfeld sind ja nicht wirklich viele Jobs für Frauen entstanden. Die für Frauen geeigneten Arbeitsplätze sind eher im Leipziger Stadtgebiet entstanden. Aber warum fahren die Frauen diese Strecken lieber mit dem Auto als mit der Straßenbahn?

Gründe dafür gibt es mindestens zwei. Und der wichtigste davon heißt: wegen der Kinder. Wer morgens im Berufsverkehr beobachtet hat, was passiert, wenn mehr als drei oder vier Kinderwagen gleichzeitig in eine Straßenbahn geschoben werden sollen, weiß, warum sich viele Familien allein schon wegen der unmöglichen Logistik lieber für den Familien-Pkw entscheiden und das Abliefern der Kinder in Krippe, Kita und Schule lieber mit dem Auto erledigen auf dem Weg zur Arbeit.

Große Wahrscheinlichkeit: Das betrifft nicht nur die jungen Mütter, sondern auch viele junge Väter.

Oder so formuliert: Für viele Familien, in denen beide Elternteile arbeiten, ist die tägliche Kinder-Logistik mit dem ÖPNV nicht organisierbar.

Der Leipziger ÖPNV hat ein Problem. Nicht nur, weil viele Standorte von Kitas und Schulen nicht wirklich gut an den ÖPNV angebunden sind, sondern weil er in der entscheidenden Phase, als die Stadt wieder auf Bevölkerungswachstum umschaltete und die Geburtenzahlen rapide stiegen, ein Konsolidierungsprogramm fuhr, bei dem die Investitionen drastisch zurückgefahren wurden. Als Leipzig ansetzte, Richtung 600.000 Einwohner zu wachsen, reduzierte die Stadt ihre Förderung für die Leipziger Verkehrsbetriebe von über 50 Millionen Euro auf 45 Millionen Euro.

Logisch, dass damit auch die Analyse flöten ging, was eine wachsende Stadt eigentlich für ÖPNV-Angebote braucht.

Wichtig zu erwähnen: Auch in die Planungen für das Mitteldeutsche S-Bahn-Netz war das heutige Wachstumstempo der Stadt nicht eingeplant. Es ist kein Wunder, dass es 2015 zu ersten massiven Engpässen im System kam.

In der Summe heißt das: Der sinkende ÖPNV-Anteil an den Wegen zur Arbeit erzählt von einem im Grunde (von der S-Bahn abgesehen) im Jahr 2000 eingefrorenen ÖPNV-Angebot, in dem wichtige Äste, Querverbindungen und Pufferangebote fehlen. Das System passt nicht mehr zur wachsenden Stadt. Und ist auch nicht nur für junge Familien unattraktiv. Das muss auch betont werden. Denn da wichtige Direktverbindungen fehlen und viele Anschlüsse nicht aufeinander abgestimmt sind, steigen viele Leipziger, die in der Stadt leben und arbeiten, lieber aufs Fahrrad um. Was ihnen zumindest die Gewähr gibt, ihr Ziel auch tatsächlich in der geplanten Zeit zu erreichen und dabei noch flexibler zu sein als ein Autofahrer.

Dass das Auto dabei überhaupt nicht das Verkehrsmittel der Wahl ist, zeigt die seit 2001 geführte Statistik zur Lärmbelastung. Die von den befragten Leipzigern empfundene Belastung durch den Straßenverkehr ist in diesen 14 Jahren permanent angestiegen, von 18 Prozent (starke und sehr starke Belastung) auf 21 Prozent, während die Belastung durch Lärm aus dem Schienenverkehr gesunken ist, von 14 Prozent (Spitzenwert 2006) auf 7 Prozent. Gestiegen ist übrigens auch die Belastungseinschätzung durch Flugverkehr von 3 Prozent im Jahr 2001 auf 10 Prozent 2012 und 7 Prozent 2014. Wobei immer mitbedacht werden muss: Es sind gesamtstädtische Abfragen. In den nordwestlichen Stadtteilen liegt die starke Lärmbelastung durch Fluglärm deutlich über 30 Prozent.

Aber dass der Straßenlärm zunehmend als starke Belastung empfunden wird, bedeutet eben auch, dass er nicht als „normale“ oder selbstverständliche Geräuschkulisse wahrgenommen wird. Mit der restriktiven ÖPNV-Politik hat die Stadt also nicht nur den Modal Split bei den Wegen zur Arbeit negativ beeinflusst, sie hat auch das Lebensgefühl an einer wesentlichen Stelle beeinträchtigt.

Und es deutet vieles darauf hin, dass sich das Verkehrsdenken in Leipzig deutlich ändern muss.

Mehr aus dem „Trendreport” besprechen wir morgen an dieser Stelle.

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Es gibt 2 Kommentare

Es wäre schon seit ca. zehn Jahren Sache der (städtischen!) Leipziger Verkehrsbetriebe gewesen, als Fachberater den Stadtrat umfassend zu informieren, wie der ÖPNV mit dem Wachstum Schritt halten könnte. Die LVB hätten sehr wohl eine Art Eigenwerbung betreiben können, um mehr Zuschüsse zu erhalten.

Stattdessen verblieben die LVB narzisstisch in der Haltung, einer der weltbesten Verkehrsbetriebe zu sein. ich erinnere gerne an die Versuche, in Alexandria (Ägypten) Fuß zu fassen und im australischen Perth das dortige ÖV-Netz zu organisieren, was weltweit für Gelächter in Fachkreisen geführt hat.

Narzisstisch ist dieses Verkehrsunternehmen auch gegenüben den (vorhandenen) Fahrgästen: Liest man die Hinweise, Beschilderungen, Texte, die da so von den LVB kommen, schwingt im Hintergrund stets ein “Von-Oben-Herab” mit. Man studiere mal an den Ticketautomaten in den Trams das Schildchen, welches für den Fall des Automatenausfalls informieren will: die “kostenlose” Weiterfahrt ist gleich ein Gnadenerweis. Von anderen Verkehrsunternehmen bin ich einen partnerschaftlichen Ton gewöhnt. Ein Kultfilm wie “Ist mir egal” oder der Slogan “Weil wir Dich lieben.” von der Berliner Verkehrsgesellschaft (BVG) wären bei LVBs komplett undenkbar.

Die LVB gestaltet ihren Fahrplan trennscharf für einen imaginären Pendler, der morgens kurz vor 7 Uhr (aber nicht vor halb sieben – wichtig!) aufbricht, zum Hauptbahnhof fährt und von seinem leipzigfernen Arbeitsplatz zurückgekommen gegen 17:30 Uhr wieder in ein LVB-Fahrzeug steigt.

Was ist morgens vor halb sieben? Ich sehe nicht nur sehr kleine Schüler an der Haltestelle stehen, die frierend auf die Tram warten, die da noch im 15′-Takt wie am Abend heranrumpelt, und in der schon kaum Sitzplätze frei sind.

Der von ihren Befürwortern so gern vor sich hergetragene Zehn-Minuten-Takt besteht keine 12 Stunden! Für eine Halbmillionenstadt ist der 10′-Takt lächerlich, das haben halb so große Städte auch schon. Und dann fängt er erst um halb sieben an, wo Leute schon am Bahngleis stehen müssten. Bei den LVB wird wohl nur von halb zehn bis fünf gearbeitet – vom technischen Bodenpersonal (Tram- und Busfahrer etc.) abgesehen?

Die Netzreform 2001 (oder 2002) hat lediglich das durch viele parallel fahrenden Tramlinien (à la 7,17,27,37) überlagerte Angebot durchrationalisiert. Die Reisezeiten haben sich etwas verlängert. Danach aber kamen die Stilllegung der alten 13, der Linie 28 (durch Bebel-Straße), die Streichung des Nordasts der 14 und der Schienenvandalismus in der südlichen Hoffmannstraße. Es gibt keine gesicherten Anschlüsse mehr – entweder nur auf Turnschuhen, auf Sicht (“Sichtanschlüsse” – Bus/Tram fährt vor der Nase weg) oder nur auf Fahrplanzufall (d.h. man verliert einen Takt, am Wochenende sehr nett).

Verschlafen haben die LVB, das Stadtgebiet weiter abzudecken. Mehr als lokales Scharmützel wie der Tram-Anschluss des Herzzentrums kommt nicht. Als ich eine Wohnung gesucht habe, war ich echt überrascht, wie weit die nächste LVB-Haltestelle sein kann, wenn man nur außerhalb der Zentrumsvorstädte guckt. Was es an weiter außerhalb liegenden Stadtteilen mit guter Erschließung gibt: nach Connewitz und Grünau kommt nicht mehr viel.

In Schockstarre verharrten die LVB angesichts der Eröffnung des Citytunnels. Da kam rein gar nichts. Keine einzige Buslinie wurde bis zu einer S-Bahn-Station durchgebunden. Eine Haltestelle gabs dann, wenn der Bus die Schienen kreuzen muss (etwa Leipzig-Nord), aber ansonsten: Fehlanzeige. Wüste Ödnis wie an Leipzig-Wahren, dort glatt verschenktes Potential.

Warum dieses LVB-Bashing? Weil nichts passiert. In Berlin gibt es gefühlt jedes Jahr eine neue Bus- oder Tramlinie. (2016 gibt es die neue 60 draußen in Köpenick.) Selbst in Dresden gibt es immer was Neues.

Stattdessen versinken die LVB in Passivität, das Geld für die passiven Geschäftsführer wird ja hoffentlich pünktlich überwiesen – dafür, bei jeder öffentlichen Diskussion herauszuposaunen, man käme mit den 45 Mios aus und bitte, bitte nicht die Zuschüsse erhöhen.

Ja, klar, nicht erhöhen. Weil die EU sonst eine unzulässige Subventionierung sieht und böse wird. Leider wird nicht ausgeführt, was dann passieren könnte. Vermutlich müsste die Stadt Leipzig die Verkehrsleistung EU-weit ausschreiben. Das käme dem Leipziger Filz, der sich neuerdings auch so nennt: “Leipziger”, gar nicht zupass.

Das technische “Boden”-Personal der LVB macht seine Arbeit den Umständen entsprechend gut, aber die Geschäftführer (auch der von der Technik) können gerne gehen. Das ist nix, was von denen kommt.

Nicht zu vergessen ist hierbei auch, dass Wohnort und Kita durchaus sehr weit auseinanderliegen können. Morgens 40 Minuten mit müden Kindern in Bus und Bimmel, womöglich noch mit Umsteigen, abends die gleiche Ochsentour wieder zurück, noch einkaufen, Kinderarzt, Sportverein … Spaß ist jedenfalls anders

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