Wie weiter mit der Linie 9? Das wäre vor zwei, drei Jahren eine gute Frage gewesen. Bevor der S-Bahn-Tunnel in Betrieb ging und eigentlich Zeit für neue Visionen im Straßenbahnnetz gewesen wäre. Denn wenn die S-Bahn einige zentrale Versorgungsaufgaben übernimmt, kann man sich ja eigentlich für betroffene Straßenbahnlinien etwas einfallen lassen? Oder doch lieber nicht?
Das “Doch lieber nicht” scheint seit 2009, als die Straßenbahnführung nach Markkleeberg-West im Nahverkehrsplan der Stadt Leipzig letztmalig als Untersuchungsstrecke ausgewiesen worden war, bis heute zu gelten. Eigene Variantenuntersuchungen zum Erhalt oder gar der Aufwertung der Straßenbahnlinie 9 nach Markkleeberg legt die Leipziger Stadtverwaltung am 28. Oktober im Stadtrat nicht vor. Sie begründet den in allerletzter Minute vorgelegten Einstellungsbeschluss mit den Beschlüssen in Markkleeberg und im Landkreis Leipzig. Doch gerade das macht deutlich, dass sich auf Leipziger Seite sechs Jahre lang niemand wirklich Gedanken gemacht hat über die Zukunft der Linienführung.
Nicht einmal aufgeschreckt ist die Verwaltung, als die Markkleeberger im Juli die Einstellung der Straßenbahnlinie auf ihrem Gebiet beschlossen, weil sie die 495.000 Euro, mit denen der Landkreis die Linie bisher bezuschusste, lieber zur Finanzierung des neuen Stadtverkehrs nutzen wollten. Gleichzeitig aber einigte man sich mit den LVB, dass die LVB die Strecke künftig trotzdem befahren werden – mit der Buslinie 70.
Das empfanden nicht nur die Connewitzer als schizophren, denn tatsächlich braucht man die Linie, weil die Fahrgastzahlen nach wie vor hoch genug sind, die Verbindung betreiben zu müssen – aber man nimmt einfach eine Herabstufung auf Busbetrieb vor, ohne auch nur die Aufwertung der Strecke untersucht zu haben.
Eine Hausaufgabe, die jetzt der Ökolöwe für Stadt und LVB und MDV erledigt hat. Der Umweltverbund hat bei der unabhängigen Verkehrsberatungsgesellschaft LTE Heidelberg ein Gutachten beauftragt, das einmal alle Möglichkeiten der LVB auslotet, ihr Straßenbahnnetz so neu zu ordnen, dass nicht nur der Weiterbetrieb des Linienastes nach Markkleeberg-West möglich ist (samt Einsparung der nun fehlenden 495.000 Euro), sondern auch noch Taktverbesserungen und neue Streckenbeziehungen möglich werden.
Das Ergebnis hat selbst den Ökolöwen verblüfft.
“Aufgabe war, eine Lösung zu finden, mit der die Straßenbahn trotz der gekürzten Mittel des Landkreises erhalten werden kann. Dabei dürfen die Betriebskosten nicht höher sein, als bei der geplanten Umstellung auf den Bus ab dem Connewitzer Kreuz. Das Gutachten zeigt auf, wie die umweltfreundliche Straßenbahn in einer abgespeckten Taktung weiterfahren kann. Die erzielten Einsparungen erlauben sogar das Angebot der Straßenbahn durch einen zusätzlichen Bus zu verdichten, der von Leipzig direkt bis zum Cospudener See fährt. Gleichzeitig kann der Landkreis sein neues Stadtbussystem kostenneutral einführen. Damit wären auch höhere Fahrgeldeinnahmen zu erwarten”, sagt Tino Supplies, verkehrspolitischer Sprecher des Ökolöwen.
Womit dann auch der Vorschlag des Ökolöwen aus dem Frühjahr, den Connewitzer See besser mit ÖPNV zu erschließen, berücksichtigt wäre. Zwar nicht mit Straßenbahn (die erst einen teuren Gleisbau braucht), dafür mit Bus.
LTE hat übrigens ein halbes Dutzend verschiedener Varianten untersucht, die alle mit dem verfügbaren Streckennetz und Fuhrpark der LVB auskommen. In zwei Varianten hat man auch überzeugende Lösungen für die Linie 14 aufgezeigt, die durchaus Potenzial hat zu einer kompletten Stadtlinie zu werden, wenn man einfach mal die Linienführungen für die 9, die 10 und die 11 nicht für alle Zeit als starr gegeben voraussetzt. Die Gutachter gehen in einigen Kommentaren durchaus so weit anzudeuten, dass die LVB im Vorfeld der Eröffnung des neuen S-Bahnnetzes die Chance vertan haben, ihr Straßenbahnnetz wirklich zukunftsfähig anzupassen.
Denn genau mit derselben Begründung, mit der jetzt einfach die Kappung eines Straßenbahnastes begründet wird, hätte vor dem Dezember 2013 auch darüber nachgedacht werden können, wie man die durch den S-Bahn-Betrieb frei werdenden Kapazitäten bei der Straßenbahn hätte nutzen und das LVB-Angebot verbessern können.
Ein Kernthema in den vergangenen fünf Jahren, das aufs engste verbunden ist mit der rigiden Kürzung der städtischen Zuweisungen an die LVB von einmal über 50 Millionen Euro auf 45 Millionen Euro, die unübersehbar hinten und vorne nicht reichen. Statt – wie eigentlich im Nahverkehrsplan und im Klimaschutzprogramm und im STEP Verkehr vom Stadtrat beschlossen – den ÖPNV weiter zu verbessern, hat man ihn auf Kante gekürzt und im Fall der Linie 9 völlig unterlassen, was eigentlich ebenfalls im Nahverkehrsplan beschlossen wurde: Denn “Untersuchung” kann ja nicht wirklich nur heißen, dass man einfach die Fahrgäste zählt und dann die Einstellung beschließt.
In jedem der einzelnen LTE-Vorschläge taucht logischerweise auch die Aufwertung der Strecke durch die Neuanlage einer neuen Haltestelle am S-Bahn-Punkt Markkleeberg-Nord auf. Das Unverständnis im Gutachten ist deutlich: Warum haben die LVB nicht mal fertigbekommen, hier mit Eröffnung des S-Bahn-Netzes wenigstens eine provisorische Haltestelle einzurichten? Dichter dran kommt man ja an eine S-Bahn-Haltestelle gar nicht.
Oder war genau das nicht gewollt, weil das möglicherweise zum gegenteiligen Effekt in Markkleeberg geführt hätte, dass nämlich mehr Menschen mit der Straßenbahn fahren, weil sie damit schneller zur S-Bahn kommen?
Wirklich belastbare Gründe, die Straßenbahn Linie 9 im Südast einfach einzustellen, sieht Tino Supplies nicht: “Wir hatten auf der Linie 9 hinter dem Connewitzer Kreuz im Jahr 2014 mehr als 1,3 Millionen Fahrgäste – trotz S-Bahn und trotz des außergewöhnlich warmen Winters. Das sind Fahrgastzahlen, die eine Straßenbahnanbindung absolut rechtfertigen und sogar noch weiter steigerbar sind. Wir fordern den Stadtrat auf, der Fahrgastnachfrage sowie den gesteckten Umweltqualitätszielen Rechnung zu tragen, indem die Straßenbahn langfristig erhalten und zukünftig weiter ausgebaut wird.”
Den 16. September hatte der Ökolöwe auch genutzt, um knapp 12.000 Unterschriften für den Erhalt und Ausbau der Straßenbahnlinie 9 als Direktverbindung zwischen Cospudener See, Markkleeberg, Connewitz und dem Zentrum von Leipzig im Stadtrat zu übergeben.
Eine Variante aus dem LTE-Gutachten hält der Ökolöwe für ziemlich leicht umsetzbar. Und sie hat nicht nur den Vorteil, die Strecke zu erhalten, sondern sie schafft sogar noch neue Angebote für die Fahrgäste. Der ” Betrieb ist kostengünstiger als der geplante Ersatz der Linie 9 durch den Bus 70″, stellt der Ökolöwe dazu fest.
Die Vorzugsvariante, die LTE und Ökolöwe zur sofortigen Umsetzung vorschlagen, besteht darin, dass auf dem entscheidenden Streckenabschnitt, wo es durch die Eröffnung des S-Bahn-Netzes zu Fahrgastrückgängen kam, zu einer Halbierung der Taktzeiten kommt.
Heute verkehrt die Linie 9 zwischen Thekla und Markkleeberg-West im 10-Minuten-Takt. Der Vorschlag von LTE: Von Thekla bis Connewitz-Kreuz bleibt es beim 10-Minuten-Takt – jede zweite Bahn kehrt also (über die Schleife Wiedebachplatz) sofort wieder nach Thekla zurück. Nach Markkleeberg bleibt ein 20-Minuten-Takt erhalten. Da aber augenscheinlich zwischen Markkleeberg-West und Markkleeberg-Mitte viele Fahrgäste unterwegs sind, um auf schnellem Weg zur S-Bahn zu kommen, fahren die Bahnen auch in Markkleeberg-West im 10-Minuten-Takt. Doch nur jede zweite fährt auch nach Leipzig durch, die anderen wenden sofort an der Wendeschleife an der Parkstraße und fahren wieder nach Markkleeberg-West zurück. Das Ergebnis: Markkleeberg behält einen 10-Minuten-Takt.
Das Gesamtsystem wird nicht teurer, im Gegenteil – in dem Streckenabschnitt, in dem Fahrgastrückgänge vermutet werden, wird sogar gespart, denn hier fahren die Bahnen zwischen Markkleeberg-Mitte und Connewitz-Kreuz nur noch im 20-Minuten-Takt.
Aber Ökolöwe und LTE schlagen noch eine weiterentwickelte Variante für den Leipziger Nahverkehrsplan vor. In dem spielt just die Buslinie 70 eine Rolle, mit der die LVB ab 28. November die Leistungen auf der bisherigen Straßenbahnlinie abfangen wollen.
Diese Variante sieht den Straßenbahnbetrieb wie in der Vorzugsvariante vor. Aber immer in dem Zeitfenster, wenn die Linie 9 nach diesem Vorschlag schon am Connewitzer Kreuz endet, soll dafür die Buslinie 70 weiterfahren und damit auch auf der Strecke Connewitz – Markkleeberg-Mitte einen 10-Minuten-Takt herstellen. Bis Markkleeberg-Mitte hätte der Bus dieselbe Strecke zu fahren – von dort aus würde sie aber über die Coburger Straße weiter fahren zum Cospudener See. Alle 20 Minuten gebe es so eine Direktverbindung zum Hafen Zöbigker.
In dieser “erweiterten Vorzugsvariante” hat LTE übrigens auch ihren Vorschlag zur Aufwertung der Linie 14 mit untergebracht, die aus Sicht der Gutachter problemlos die komplette Strecke von Plagwitz nach Thekla übernehmen könnte, während die Linie 9 dann – wie die Linie 10 – nach Wahren fahren würde.
Tatsächlich steckt im Leipziger Streckennetz noch eine ganze Menge ungenutztes Potenzial, das auch erschlossen werden könnte, ohne die Kosten deutlich zu steigern. Eher wäre damit zu rechnen, dass man deutlich mehr Fahrgäste gewinnt.
Aber auch das schwingt im LTE-Gutachten mit: Irgendwie will Leipzig kein verbessertes Straßenbahnangebot und irgendjemand bremst – entgegen aller Stadtratsbeschlüsse – nach allen Kräften.
Der Ökolöwe zur anstehenden Entscheidung im Stadtrat: “Die Entscheidung liegt nun allein in der Hand des Leipziger Stadtrates. Er kann am 28. Oktober die Stilllegung der Straßenbahnstrecke ablehnen. Die LVB sind ein Unternehmen der Stadt Leipzig und besitzen die Linienkonzession bis zur Endstelle in Markkleeberg-West, die ihnen weder der Landkreis, noch die Stadt Markkleeberg streitig machen kann.”
Es gibt 2 Kommentare
>die LVB im Vorfeld der Eröffnung des neuen S-Bahnnetzes die Chance vertan haben, ihr Straßenbahnnetz wirklich zukunftsfähig anzupassen.
Danke, dass das auch mal Externe so sagen. Es ist seit ungefähr 2005 ein offenes Geheimnis, dass die Leipziger Verkehrsbetriebe die Einführung des S-Bahn-Netzes verschlafen werden und es tatsächlich auch ziemlich komplett getan haben. Leipzig-Nord war die einzige neue LVB-Haltestelle, und “schon” ein Jahr später ist Leipzig-MDR mal etwas besser angeschlossen worden… Nach der Netzreform 2002 hätte eine weitere Netzreform 2012 sehr gut passen können. Aber man war wohl nach der Busnetzreform 2010, die mehr ein laues Lüftchen geworden ist (bis auf die geradezu revolutionäre Linie 74), wohl erstmal erledigt…
Mal als eines der neuesten Signale, dass die LVB immer noch nichts von der S-Bahn gemerkt haben: Auf ihren Werbeplakaten für “Leipzig Mobil” (eine App) taucht im zentralen Blumenmotiv das Verkehrsmittel “S-Bahn” gar nicht auf.
Der Vorschlag des Ökolöwen (bzw. dieses Verkehrsberatungsunternehmens) im Detail zu den Linien 9 und 70 wird im Nahverkehrsforum eher kontrovers diskutiert.
Ich persönlich halte diese Zwei-Schleifen-Lösung, noch dazu mit wechselseitigen Durchbruchsfahrten, für ziemlichen Murks. Das kann betriebstechnisch gar nicht funktionieren, vom Personaleinsatz noch gar nicht gesprochen.
Außerdem besteht auf dem Leipziger Streckenabschnitt (zwischen Connewitz Kreuz und Koburger Brücke) sehr wohl noch ein Bedarf. Man tut ja hier gerade so, als ob die Fahrgäste sich da nur schlafen legen, um erst in Markkleeberg auszusteigen. Das Gegenteil ist der Fall: Leer wirds erst ab Forsthaus Raschwitz, nicht vorher.
Mittlerweile hat man es ja verstanden, den Zahlen der LVB nicht zu glauben.
Der Ökolöwe zur anstehenden Entscheidung im Stadtrat: „Die Entscheidung liegt nun allein in der Hand des Leipziger Stadtrates. Er kann am 28. Oktober die Stilllegung der Straßenbahnstrecke ablehnen. Die LVB sind ein Unternehmen der Stadt Leipzig und besitzen die Linienkonzession bis zur Endstelle in Markkleeberg-West, die ihnen weder der Landkreis, noch die Stadt Markkleeberg streitig machen kann.“
Diese Argumentation ist unseriös. Sehr unseriös!
Mir stellt sich auch die Frage, weshalb der Ökolöwe dieses Gutachten in Auftrag gegeben hat. Hat er zuviel Geld? Für mich eine unverantwortliche Ausgabe. Aber scheinbar wird beim Ökolöwen der Umgang mit Geld nicht so verbissen gesehen.
Das entscheidende Kriterium ist, dass sich die Stadt Markkleeberg – aus welchen Gründen auch immer – nicht an der Finanzierung beteiligt.
Damit ist der Spielraum für jede weitere Diskussion gering. Dieser Anteil müsste demnach von der Stadt
Leipzig getragen werden, was eindeutig haushaltsrechtlichen Vorschriften widersprechen würde.
Deshalb mein gut gemeinter Rat, mehr Sachlichkeit bei der Diskussion zur Linie 9 wäre empfehlenswert.