Vielleicht ist es ja wirklich so. Vielleicht bekamen die Grünen am 22. September bei der Bundestagswahl ja tatsächlich eine Klatsche selbst von ihren Stammwählern, weil sie zu oberlehrerhaft, zu besserwisserisch daherkamen. Als Verbotspartei, die den armen Deutschen auch noch den letzten Spaß verderben will. Es ist ja auch nicht so einfach: zu wissen, was richtig und notwendig ist - und es dann irgendwie in Politik zu gießen. Aber der Reflex ist stark. Auch in Sachsen. Thema: Tempo 120 auf Autobahnen.

Am Dienstag, 1. Oktober, gab es eine Sachverständigenanhörung im Ausschuss für Wirtschaft, Arbeit und Verkehr zum Antrag der Fraktion Bündnis 90 / Die Grünen, der ein Tempolimit von 120 km/h auf Autobahnen fordert.

Die Reaktion des Vorsitzenden des Arbeitskreises Wirtschaft, Arbeit und Verkehr der CDU-Fraktion des Sächsischen Landtages Frank Heidan war schneller als die Erklärung der Grünen selbst in der Welt. Heidan: “Der vorgelegte Antrag der Grünen zur Einführung eines allgemeinen Tempolimits auf deutschen Autobahnen ist ein erneutes Glanzstück grüner Verbotspolitik. Offenbar haben die Grünen den Denkzettel des Wählers bei der Bundestagswahl noch immer nicht zur Kenntnis genommen, der sich solch? eine Bevormundung verbittet. – Deutsche Autobahnen gehören zu den sichersten Verkehrswegen weltweit. Bereits auf einem Viertel des deutschen Autobahnnetzes herrscht ein faktisches Tempolimit. Das Konzept der Richtgeschwindigkeit stößt bei den Autofahrern nicht nur auf höhere Akzeptanz, sondern hat sich auch bei der Entwicklung von Sicherheitstechnologien im Kraftfahrzeugbau bewährt.”

Auch die Grünen selbst schätzten die Diskussion in der Experten-Anhörung im Ausschuss für Arbeit, Wirtschaft und Verkehr als lebhaft ein. Sie fordern ein Tempolimit auch noch gestaffelt: 120 km/h auf sächsischen Autobahnen sowie 100 km/h auf den stadtnahen Abschnitten von Dresden, Chemnitz, Leipzig und Plauen. Allerdings gab es nur einen Sachverständigen – den von den Grünen selbst benannten Polizeidirektor Martin Mönnighoff. Die anderen Fraktionen wollten keine Sachverständigen benennen.

“Für uns liegen die Vorteile für ein Tempolimit klar auf der Hand”, erklärt Eva Jähnigen, verkehrspolitische Sprecherin der Grünen-Fraktion im Sächsischen Landtag. “Nichts ist geeigneter, um die Verkehrssicherheit auf Autobahnen zu erhöhen.”

Und was Mönninghoff zu erzählen hatte, bestätigt natürlich, was die Grünen beabsichtigten. Polizeidirektor Martin Mönnighoff war mehr als zehn Jahre Fachgebietsleiter des Lehrstuhls Polizeiliche Verkehrslehre an der Deutschen Hochschule der Polizei. Und er erklärte: “Dort, wo Tempolimits auf Autobahnen eingeführt worden sind, ging die Zahl der Verkehrstoten um mindestens 20 Prozent zurück. Das nächtliche Tempolimit auf der Autobahn zwischen Braunschweig und Magdeburg hat die Todesrate sogar halbiert. In der Verkehrswissenschaft gibt es eine einfache Faustformel: Eine ein Prozent niedrigere Durchschnittsgeschwindigkeit senkt die Anzahl der Verkehrsunfälle um zwei Prozent, vermindert die Anzahl der Verletzten um drei Prozent und die Todesfälle um vier Prozent.”

Die bundesdeutschen Zahlen dazu: Die Bundesrepublik Deutschland ist der einzige Staat in Europa ohne allgemeine Geschwindigkeitsbegrenzung für Pkw auf Autobahnen. Die Spanne der zulässigen Höchstgeschwindigkeiten für Pkw auf Autobahnen in Europa beginnt bei 110 km/h in Norwegen. Italien, Belgien, Griechenland, Finnland, Portugal, die Schweiz, Großbritannien und Spanien haben eine Obergrenze bis max. 120 km/h. Die höchsten Obergrenzen liegen bei 130 km/h.

Während sich “nur” 3,9 Prozent aller Personenschadensunfälle in Sachsen im Jahr 2012 auf Autobahnen ereigneten (532 von 13.633), wurden dabei 9 Prozent aller bei Verkehrsunfällen Getöteten (19 von 211), 6,3 Prozent aller Schwerverletzten und 4,6 Prozent aller Leichtverletzten registriert.

Als ein Maß für die Unfallschwere kann man das Verhältnis der Anzahl der Getöteten zu der Anzahl der Unfälle mit Personenschaden der entsprechenden Ortslage und Straßenklasse verwenden. Im Jahr 2012 verunglückten bei je 1.000 Unfällen mit Personenschaden im Freistaat Sachsen 15 Menschen tödlich (2011: 14). Dabei schnitten die Autobahnen mit 36 Getöteten auf je 1.000 Unfälle mit Personenschaden (2011: 38) am schlechtesten ab.

Eigentlich klare Zahlen für eine Tempo-Beschränkung. Aber die deutsche Wirklichkeit kennt auch noch das Wörtchen Emotionen. Es ist beim Autofahren wie beim Rauchen, wie beim Fleischessen, wie beim Alkohol … in jedem Laster steckt auch ein Stück Freiheit. Wer es nicht glaubt: Vor dem Dilemma stand auch Adam schon. Und wer sich erinnert: Er folgte der verführerischen Stimme und wählte die Freiheit. Oder war es doch der Ruf der Vernunft?Aber was macht man da, wenn man doch die Welt verbessern und das Autofahren auf Sachsens Autobahnen sicherer machen möchte. Eva Jähnigen: “70 Prozent aller tödlichen Autobahn-Unfälle in Deutschland ereignen sich auf Abschnitten ohne Geschwindigkeitsbegrenzung. Auch in Sachsen ist das Risiko, im Fall eines Verkehrsunfalls getötet oder schwerverletzt zu werden, in diesen Bereichen am höchsten. Wenn es auf der Autobahn zu einem Unfall kommt, ist die Wahrscheinlichkeit, getötet zu werden, mehr als doppelt so hoch wie auf allen anderen Straßen.”

Und nicht nur um Sicherheit geht es. Wer sich die Leipziger Lärmkarten anschaut, sieht, dass die A 14 als fetter knallroter Wurm durch den Leipziger Norden geht – sie ist die stärkste Lärmquelle im Stadtgebiet. Für Eva Jähnigen ist eine Tempo-Drosselung in so einem Bereich auch ein wichtiger Beitrag zur Lärmminderung in der Stadt: “Geschwindigkeitsbegrenzungen bei stadtquerenden Autobahnabschnitten verringern zudem die Lärmbelastung der Anwohner. Sven Morloks Brandenburger Amtskollege Jörg Vogelsänger hat gezeigt, dass es durchaus möglich ist, aus Lärmschutzgründen Tempolimits für Autobahnabschnitte anzuordnen, die zur Entlastung nahe gelegener Wohngebiete beitragen.”

Und sie hat noch ein gutes Argument: das Geld. “Geschwindigkeitsbegrenzungen sind leicht umsetzbar und kostengünstig. Ganz im Gegensatz zum Bau von Lärmschutzwänden und der Nachrüstung der Fahrbahndecken mit offenporigem Asphalt. Deshalb haben wir die Staatsregierung aufgefordert, sich im Bundesrat für eine bundesweit einheitliche Lösung einzusetzen.”

Das sind drei gute Argumente. Aber was hilft es, wenn Politik auch in Deutschland zuallererst einmal mit dem Bauch gemacht wird? Und nur, wenn’s wirklich nötig ist, mit dieser trockenen, so schrecklichen Vernunft.

Der grüne Antrag “Tempolimit von 120 km/h auf Autobahnen” (Drs. 5/6993): www.gruene-fraktion-sachsen.de/00d920a5.l

Statistischer Bericht Straßenverkehrsunfälle im Freistaat Sachsen 2012: www.statistik.sachsen.de/download/100_Berichte-H/H_I_3_j12_SN.pdf

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