Am 5. Mai ist wie in jedem Jahr "Europäischer Protesttag der Menschen mit Behinderung". Es wird eine große Kaffeetafel auf dem Markt geben. Aber was nutzt Protest, wenn sich nichts ändert? Und was muss sich ändern? - Im Kern geht es sogar um etwas ganz Simples: eine Gesellschaft ohne Barrieren. Einen weiteren Schritt tun jetzt die Leipziger Verkehrsbetriebe (LVB). Einen Monat lang testen sie ein neues Bauteil an ihren Niederflurfahrzeugen - eine Einstiegsleiste.

Auf zwei Linien fahren Testbahnen, die diese Einstiegsleisten montiert haben. Man erkennt sie an den hübschen kleinen “Balkonen” unterhalb der Türen. Es ist ein ganz spezielles Leipziger Problem, an dem sich LVB, Fahrgastbeirat und Behindertenverband schon einige Jahre die Köpfe zergrübeln. Es geht nicht nur um den Zustieg von Menschen mit Behinderung. Barrierefreiheit ist bei den LVB seit 1994 ein Thema. Damals wurden die ersten Niederflurwagen – die NGT 8 – eingeführt. Gleichzeitig begann der Umbau des Haltestellennetzes zu barriereärmeren Haltestellen. Anfangs als Testprojekt. Es war ein Lernprozess, bei dem Fahrgastbeirat und Behindertenverband immer wieder als Partner gebraucht werden.

Ingenieure und Planer können sich ja alles Mögliche ausdenken. Aber wenn es in der Praxis nicht funktioniert, ist das Geld zum Fenster rausgeschmissen und keinem hat’s geholfen. Deswegen sieht man die ersten barrierearmen Haltestellen auch nicht mehr im Stadtbild, sondern größtenteils die mit der Zeit gereiften Standardhaltestellen, auf denen auch Aufbauten wie Fahrkartenautomat und Wartehäuschen ihre festen Plätze haben und der Blindenleitstreifen immer nach dem selben Muster angelegt ist.

Doch auch eine Zukunftsentscheidung der LVB spielt eine Rolle. Das Ziel, künftig wesentlich größere Teile des Verkehrs zu schultern, will das Verkehrsunternehmen künftig auch mit 20 Zentimeter breiteren Fahrzeugen abdecken. Dazu wird seit ein paar Jahren das Netz umgebaut. Bei Gleisneubauten werden die Gleisabstände und Kurvenradien vergrößert, an den Haltestellen werden die Borde um 10 Zentimeter zurück verlegt. Dieser Umbau nimmt ein paar Jahre in Anspruch. Erst wenn das ganze Netz für die breiteren Fahrzeuge ausgelegt ist, können diese auch bestellt werden.Aktuell behilft man sich noch damit, die Fahrzeuge zwar im Aufbau breiter zu machen – in Höhe des Einstiegs aber sind die Fahrzeugkörper verschlankt. Sieht sogar elegant aus. Bringt aber ein Problem: An den Haltestellen bemerkt der Fahrgast zwischen Bahnsteigkante und Innenraum beim Öffnen der Türen einen 10 Zentimeter breiten Spalt. Wer noch gut zu Fuß ist, hat damit kein Problem. Wer freilich auf Gehhilfen angewiesen ist oder gar Rollstuhl, bekommt damit immer wieder mal ein Problem. Gerade wenn das Hilfsgerät kleinere, schwenkbare Räder hat, kann es passieren, dass man damit in diesen Spalt rutscht und hängen bleibt. Aber auch mit Rollatoren oder Krückstöcken wird der Spalt zur Gefahr.

Eine Lösung für das Problem sind die Klappen, die sich in den modernen Bussen und den XXL-Bahnen finden. Hier kann der Fahrer gerufen werden, um die Klappe aufzuhebeln und so die Ein- oder Ausfahrt in das Fahrzeug zu erleichtern. Die Busse setzen zusätzlich eine hydraulische Neigetechnik ein, die allen Passagieren den Zustieg erleichtert. Aber das kann nicht die Lösung sein. Denn immer erst den Fahrer zu rufen, wenn es etwas schwieriger wird, hat mit barrierefreier Mobilität nicht wirklich viel zu tun.
Und darum geht es eigentlich beim Straßenbahnnetz der Zukunft: Auch alle Menschen mit Gehbehinderungen sollen die Fahrzeuge problem- und frustlos benutzen können, ohne erst Hilfe rufen zu müssen. Und da geht es nicht nur um Menschen, die mit Behinderungen schon geboren wurden oder diese durch Unfälle erlitten. Die Zahl der Behinderten steigt auch mit der zunehmenden Zahl älterer Menschen. Um ihnen allen unbeschränkte Mobilität zu ermöglichen, müssen die Fahrzeuge ganz selbstverständlich so ausgerüstet sein, dass der Zustieg ohne Komplikationen erfolgen kann. Und zwar im ganzen Netz.

Was dann auch heißt, dass irgendwann alle über 500 Haltestellen im Netz der LVB barrierefrei ausgebaut sind. 60 Prozent sind es jetzt schon. Aber bis alle umgerüstet sind, werden noch ein paar Jahre vergehen.

Die jetzt anmontierten Einstiegsleisten an zwei Straßenbahnen der LVB – einem XXL-Fahrzeug und einer NGT-8-Bahn – sind schon das Ergebnis einer längeren Testreihe, in der auch schon eine schräge Leiste getestet wurde und den Praxistest nicht bestand. Wie kompliziert das Thema tatsächlich ist, durfte die Presse am Freitag, 3. Mai, bei der Vorstellung der beiden neuen Leistentypen im Praxistest sehen.Beide Typen sind aus Edelmetall – die eine wurde in lackierter Version mit kleiner Trittleiste an einer Niederflurbahn NGT 8 montiert, die frisch aus der Generaluntersuchung kam. Da verzweifelten auch einige Fahrer mit großen Rollstuhlreifen. Die Reifen griffen nicht und blockten teilweise an der Kante. Zumindest auf der extra aufgebauten Testplattform. Beim Test an der Haltestelle Angerbrücke ging es schon besser.

Denn was der normale Straßenbahnnutzer nicht merkt, sind die großen Spielräume im gewöhnlichen Straßenbahnbetrieb. Bis zu 15 Zentimeter kann der Niveauunterschied betragen zwischen einer Bahn mit abgefahrenen Radreifen auf abgefahrenen Gleisen und einer mit neuen Radreifen auf neuen Gleisen.

Die Leiste deckt auf jeden Fall den 10-Zentimeter-Zwischenraum ab und mindert somit die Gefahr gerade für Rollstühle und Rollatoren mit kleinen Rädern, in den Spalt abzugleiten. Doch auch Roland Juhrs, technischer Geschäftsführer der LVB, staunte, dass die Lösung für das eine noch nicht ganz die Lösung für alle ist.

Leichter fiel es den Testern vom Behindertenverband Leipzig, über die gummiummantelten Einstiegsleisten in das XXL-Fahrzeug zu kommen. Möglich, dass das Gummi den Reifen mehr Grip verschafft, möglich auch, dass der Niveauunterschied nicht so groß war, weil die Bahn schon ein paar Jahre lang ihre Räder abgefahren hat.

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Die Lösung, die gefunden werden muss, muss aber alle Zustände der Fahrzeuge abdecken und trotzdem funktionieren. Immerhin haben die LVB vor, noch in diesem Jahr alle 170 Niederflurfahrzeuge in ihrem Bestand – auch die Leoliner – mit solchen Trittleisten auszustatten. Das sind dann etwa 500 Türen, die so aufgerüstet werden. “Was wir uns insgesamt noch einmal 900.000 Euro kosten lassen”, sagt Juhrs.

Kritischen Auges besah sich auch Rolf Sondershaus vom Behindertenverband die Lösungen, die Ergebnis eines gemeinsamen Labortests sind. Die Lösung braucht noch etwas Nacharbeit, sagte seine Miene. Jetzt sollen die Einstiegsleisten im Praxistest erprobt werden und alle Leipziger und insbesondere jene mit Gehhilfen aller Art, sind natürlich eingeladen, den Test aktiv zu begleiten.

Der umgerüstete NGT-8 (Fahrzeugnummer 1147) fährt in den nächsten Wochen regelmäßig auf der Linie 9. Der umgerüstete Classic XXL (Fahrzeugnummer 1225) ist auf der Linie 11 unterwegs. Die Einsatzzeiten sind täglich die selben. Die aufgeführten Haltestellen sind barrierefrei ausgebaut. Die Fahrpläne sind hier im Anhang als PDF zu finden.

Der Fahrplan Linie 9 als PDF zum download.

Der Fahrplan Linie 11 als PDF zum download.

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