Leistungsvolumina, Zusatzangebote, Wettbewerb - der neue Entwurf der Finanzierungsverordnung im ÖPNV in Sachsen strotzt von Vokabeln, die man aus der freien Wirtschaft kennt. Doch der öffentliche Personennahverkehr wird in den nächsten Jahren immer wichtiger, um den Sachsen überhaupt noch Mobilität zu sichern. Doch Strecke um Strecke stellt Verkehrsminister Sven Morlok zur Disposition: Als nächste im Raum Leipzig gefährdet ist die Strecke Borna-Geithain.
“Mit der neuen ÖPNVFinVO kommt Sven Morlok zur Unzeit und schneidet zugleich langfristig tief ins Gefüge des Schienen-Personennahverkehrs in Sachsen ein. So steht der Streckenabschnitt Borna-Geithain mittelfristig auf der Kippe”, stellt Enrico Stange, Sprecher für Landesentwicklung und Infrastruktur der Fraktion Die Linke im Sächsischen Landtag, fest.
Die Verhandlungen über die Revision der Regionalisierungsmittel sind noch nicht abgeschlossen, und der Freistaat hat mit dem Doppelhaushalt 2011/12 bereits einen ersten tiefen Einschnitt in die Mittelzuweisung an die Nahverkehrszweckverbände getan. Von den ohnehin in Sachsen nur 70 Prozent der vom Bund erhaltenen Regionalisierungsmittel an die Nahverkehrszweckverbände weitergeleiteten Gelder hatte er noch einmal im Doppelhaushalt pro Jahr knapp 8 Prozent gekürzt.
“Und es pfeifen alle Spatzen von den Dächern, was Sven Morlok noch als ‘Unbekannte’ verbreitet wissen will: Sachsen erhält derzeit noch an Landes- und Bevölkerungszahl gemessen (ca. 5 Prozent) eine überdurchschnittliche Verteilungsmasse (7,16 Prozent) der Regionalisierungsmittel. Damit dürfte nach Kenntnisstand der Fachwelt bei der auf der Grundlage der von Sven Morlok zu verantwortenden haushaltsbedingten gekürzten und ausgedünnten Angebote 2012 stattfindenden Revision für die Verteilung der Regionalisierungsmittel für Sachsen eine wesentlich gekürzte Mittelzuweisung durch den Bund herauskommen. Im schlimmsten Fall fallen der Morlokschen Kürzungspolitik somit bis zu 30 Prozent der Zuweisungen zum Opfer.”
Dabei scheint der Verkehrsminister nicht einmal erfasst zu haben, was sein zuständiger Staatssekretär ihm und seinen Ministerkollegen zugearbeitet hat. Dass die Zuarbeitet von Begriffen aus dem Betriebsmanagement strotzt, ist verständlich. Roland Werner (41) ist geborener Münchener und hat Wirtschaftswissenschaften mit den Schwerpunkten Controlling sowie Wirtschafts- und Unternehmenspolitik an der Universität Augsburg studiert.
Wer in der ganzen Behandlung des ÖPNV in Sachsen seit 2009 die Arbeit eines Controllers vermutet, der alles, was keine Überschüsse bringt, am liebsten der Effizienz wegen sofort streichen würde, der hat hier den Verursacher. Werner erklärt auch noch mit akribischen Rechenexempeln, um was es ihm geht – dabei spielt eine möglichst flächendeckende und sinnvolle Versorgung mit Nahverkehrsangeboten keine Rolle. Im Gegenteil: Er betont – man kennt Gleiches ja auch von der Budgetierung der Hochschuletats in Sachsen – die neue Autonomie der Zweckverbände, deren Finanzierung per 2011 drastisch gedrosselt wurde. Jetzt hätten sie so eine Art Planungssicherheit und alle Freiheit der Welt, die kostengünstigsten Angebote für die jeweiligen Streckenbeauftragungen zu suchen.
Wer bislang schon jedes Mal erschreckte, wenn die Kommunen unter Sparzwang immer die billigsten Anbieter wählten – und am Ende für Verzögerungen und Nacharbeiten draufzahlten, sieht hier ein Konzept, wie die sächsische Staatsregierung die Zweckverbände geradezu dazu zwingt, genau so zu handeln. Die prognostizierten Bevölkerungsrückgänge in den sächsischen Regionen sind dabei schon eingepreist.
Sachsen hat sich in den letzten Jahren zu einer Art Versuchslabor für all die liberalen Wirtschaftsrezepte entwickelt, die den Staat zu einer Art schlank gespartem Unternehmen machen, der nur noch Kernaufgaben erfüllt und alles, was kostenintensive Vorhaltung und Daseinsfürsorge betrifft, wegspart.
Roland Werner war ab 1997 Büroleiter des Bundestagsabgeordneten Dr. Guido Westerwelle. 2000 wechselte er als persönlicher Referent und Sprecher zu Dr. Wolfgang Gerhardt, seit 2005/2006 war Roland Werner als Geschäftsführer der FDP-Fraktion im Sächsischen Landtag tätig. Seit 2009 ist er Staatssekretär im Staatsministerium für Wirtschaft, Arbeit und Verkehr.
Was er da unterschriftsreif für seinen Minister erarbeitet hat, würde wahrscheinlich auch in einem privaten Unternehmen erst einmal eine Übersetzung für den Aufsichtsrat brauchen. Sonst sind die Stellschrauben, die in einer richtigen Bleiwüste stecken, nicht einmal für Leute erkennbar, die sich mit dem Thema von Berufs wegen beschäftigen. Es ist echte Controller-Sprache.
Enrico Stange zu den drohenden Kürzungen bei den zugewiesenen Regionalisierungsmitteln: “Bei der Vorstellung der neuen ÖPNVFinVO gegenüber den versammelten Pressevertretern hat Sven Morlok diese bittere Wahrheit durch Unwissenheit und Zuversichtsduselei zu überdecken versucht. Jedoch werden alle noch im Jahr 2014 begutachten können, was dabei herausgekommen sein wird. Ob der Unkenntnis über den Ausgang der Verhandlungen zu den Regionalisierungsmitteln kommt die neue ÖPNVFinVO, die Morlok gern ohne großes Aufsehen parallel zum Doppelhaushalt 2013/14 vielleicht sogar im Haushaltbegleitgesetz durchbringen will, zu früh und zur Unzeit.”
Im Sächsischen Verkehrsministerium vermischt sich diese Spar-Aktion im ÖPNV mit einer gewollten Umverteilung der öffentlichen Gelder hin zum Straßenausbau. Wo man ein solches Controlling, wie man es jetzt dem Schienenverkehr überstülpt, noch nie gesehen hat. Man baut einfach wild drauflos nach der antiken Methode: Breit und viel hilft viel.
Enrico Stange: “Auf der anderen Seite unternimmt der Staatsminister mit der neuen ÖPNVFinVO den Versuch, seiner Ideologie vom straßengebundenen Verkehr entsprechend den Schienen-Personennahverkehr entscheidend zu schwächen. Offen verkündet er, der Bus sei billiger und somit auch besser fürs Land. Das dieser neuen ÖPNVFinVO zugrunde liegende externe Gutachten gilt in der Fachwelt als ziemlich halbseiden und erweckt den Eindruck, dass das Ergebnis bereits vorgegeben war. Schließlich ist die Landesverkehrsprognose Sachsen eines der best gehüteten Geheimnisse des Hauses Morlok. Auch die Nahverkehrszweckverbände können auf deren Daten nicht zugreifen. Offenbar wird in ihr prognostiziert, dass der Bedarf an ÖPNV in den meisten Regionen weiter zurückgeht. Deshalb sei, so Morloks Logik, die neu eingeführte Streckenkategorisierung, die mit einer erheblichen Verschiebung der Finanzierungsvoraussetzungen verbunden ist, ein Abbild der künftigen Nachfrage.”
Stanges Kritik: “Was Morlok und das Gutachten allerdings nicht berücksichtigen, ist die einfache Tatsache, dass keine Verkehrsstatistik der Welt erfassen kann, wie viele Autofahrer lieber den Zug genommen hätten, wenn er denn gefahren wäre. Was aber anzunehmen ist: Wenn der Zug nicht mehr fährt, steigen dessen ehemalige Nutzer eher auf das Auto um als auf den Bus. Der Bus ist stets eine Verschlechterung und zudem meist langsamer als der Zug.”
Darüber hinaus würden die tatsächlichen Angebotsplanungen der Zweckverbände nicht wirklich berücksichtigt. Statt dessen schreibe die neue Verordnung ihnen vor, auf welchen Hauptstrecken sie wie viele Züge fahren lassen müssen. Die behauptete Autonomie wird also auch hier – genauso wie im Hochschulressort – durch konkrete Vorgaben des Ministeriums – sofort wieder aufgehoben.
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Solche Takt-Vorgaben finden sich zum Beispiel auf den Strecken Leipzig-Riesa-Dresden, Chemnitz-Leipzig, Dresden-Chemnitz-Zwickau-Hof.
“Mit diesen Vorschriften führt Sven Morlok ad absurdum, was er stets betont: Die Zweckverbände würden selbst über die Organisation und Ausgestaltung des ÖPNV entscheiden”, stellt Stange fest. “Im Gemenge aus Bedienvorschriften auf eigentlichen Fernverkehrsstrecken, neuer Streckenkategorisierung und Finanzierungsverschiebung aus Grund- und Zusatzangebot greift er tief in die Nahverkehrsaufgabe ein und somit in die kommunale Selbstverwaltung. Zugleich schneidet er tief ins Nahverkehrsgefüge in Sachsen zuungunsten des ländlichen Raums ein.”
Auf der Strecke könnten dabei mittelfristig vor allem jene bleiben, die mit dem Zug von Borna oder Frohburg Richtung Geithain-Chemnitz unterwegs sein wollen oder müssen bzw. von Geithain und Frohburg Richtung Borna oder Leipzig. Stange: “Ebenso bestandsgefährdet dürfte die Strecke Grimma-Großbothen-Döbeln sein. Beide Strecken gelten als weniger gut ausgelastet. Zudem wird aufgrund des nach der Streckenkategorie fast schon sicheren Wegfallens der Verlängerung von Döbeln über Meißen nach Dresden die Auslastung von Leipzig über Grimma nach Döbeln eine noch geringere Auslastung erfahren.”
Das Ministerium gibt also sogar die Abwärtsspirale vor. Was für die betroffenen Regionen zwangsläufig wieder bedeutet: Die Abwanderung der jungen Leute wird sich verstärken. Weg aus den abgehängten Landesteilen – in die Großstädte, wo man wenigstens noch zu Fuß laufen kann, wenn schon keine Bahn mehr fährt.
Die Verordnung als PDF zum download.
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