Über den aktuellen Wetterkatastrophen mit Überflutungen an der einen Stelle, brennenden Wäldern an anderer, abschmelzenden Gletschern und Polkappen vergisst man beinah, dass neben der katastrophalen Aufheizung unserer Atmosphäre auch eine weitere Katastrophe parallel vonstattengeht: das Artensterben weltweit, das oft dieselben Ursachen hat wie die Klimaerhitzung, aber meist noch viel mehr andere, die aber genauso von einem fatalen menschlichen Hochmut erzählen, so wie der gedankenlose Gebrauch von Pestiziden.
Mehr als 100 Bio-Unternehmen, Umweltorganisationen, Wasserwirtschaftsverbände und Wissenschaftler fordern jetzt in einem Offenen Brief an die Bundestagskanditat/-innen eine Pestizid-Abgabe und ein jährliches Pestizid-Monitoring ab 2022.„Setzen Sie sich in der kommenden Legislaturperiode ein für eine Beschlussfassung auf nationaler und EU-Ebene zum schrittweisen Ausstieg aus der Anwendung von chemisch-synthetischen Pestiziden bis zum Jahr 2035 sowie für ein Verbot der für Gesundheit und Umwelt besorgniserregendsten Pestizide in den nächsten fünf Jahren.“
Dies fordern mehr als 100 Bio-Unternehmen, Umweltorganisationen, Wasserwirtschaftsverbände und Wissenschaftler in einem gemeinsamen Offenen Brief an die Bundestagskandidat/-innen zur Bundestagswahl 2021 von CDU/CSU, SPD, Grüne, FDP und Linke.
Zu den Unterzeichnern des Briefes gehören neben dem Initiator, dem Bündnis für eine enkeltaugliche Landwirtschaft, auch die Deutsche Umwelthilfe (DUH), das Umweltinstitut München, die Bio Company, Demeter, die Internationale Arbeitsgemeinschaft der Wasserwerke im Rheineinzugsgebiet (IAWR) und die Michael Succow Stiftung.
Johannes Heimrath, Vorstandsmitglied des Bündnisses für eine enkeltaugliche Landwirtschaft, erklärt zu dieser neuen Aktion: „Bisherige Maßnahmen wie das kürzlich beschlossene Insektenschutzgesetz reichen bei weitem nicht aus, um Mensch und Natur vor Pestiziden zu schützen. Hier müssen die künftigen Bundestagsabgeordneten deutlich nachsteuern. Besonders die sich nachweislich über die Luft weit verbreitenden Wirkstoffe Glyphosat, Pendimethalin, Prosulfocarb und Terbuthylazin müssen sofort neu bewertet werden. Bis sichere Ergebnisse vorliegen, sind für diese Pestizide strenge Risikominderungsmaßnahmen einzuleiten.“
Das Bündnis für eine enkeltaugliche Landwirtschaft hatte 2020 eine bundesweite Studie zur Verbreitung von Pestiziden in der Luft veröffentlicht. Sie belegt den kilometerweiten Ferntransport vor allem dieser fünf Stoffe bis in Städte und Naturschutzgebiete hinein.
Aber die eingesetzten Pestizide bleiben auch vor Ort, lagern sich im Boden ab und werden in die Gewässer gespült, sodass sie nicht nur auf dem Feld, wo sie versprüht werden, Insekten und Tiere vernichten, sondern auch in den angrenzenden Ökosystemen und auch in benachbarten Landschaftsschutzgebieten für das Absterben bedrohter Tierarten sorgen.
Um Mensch und Natur besser vor dem Pestizid-Einsatz in der Landwirtschaft zu schützen, müssten sich die künftigen Bundestagsabgeordneten für eine Reform des Pestizid-Zulassungsverfahrens auf EU-Ebene einsetzen, fordern die Unterzeichner des offenen Briefes.
Dabei müssten der Ferntransport von Pestiziden durch die Luft sowie die Kombinationswirkung mehrerer Pestizide in der Natur und im menschlichen Körper künftig stärker berücksichtigt werden. Beides würde bislang sowohl politisch als auch wissenschaftlich zu wenig beachtet.
Zudem sollten sich die Bundestagskandidat/-innen für ein jährliches Pestizid-Monitoring sowie eine Pestizid-Abgabe ab dem Jahr 2022 starkmachen. Der Einsatz von Pestiziden führe zu hohen Folgekosten für die Gesellschaft und für von Kontaminationen betroffene Bio-Landwirt/-innen.
„Der Umbau hin zu einer ökologischen Landwirtschaft soll durch die Pestizid-Abgabe gefördert werden – als Maßnahme, um den europäischen Green Deal zu erreichen. Außerdem ist durch die Abgabe ein Schadensersatz für betroffene Bio-Landwirt/-innen für unverschuldete Pestizid-Kontaminationen möglich“, heißt es in dem Brief.
Ob freilich das Jahr 2035 als Ende des Pestizid-Einsatzes wirklich noch erstrebenswert ist, ist durchaus infrage zu stellen. Denn durch den Pestizideinsatz befeuert geht das Artensterben in Deutschland heute schon mit beschleunigtem Tempo voran.
Was 2017 von einigen Akteuren noch heftig bestritten wurde, dass nämlich gerade das Insektensterben mit beängstigendem Tempo vorangeht, hat das Deutsche Zentrum für integrative Biodiversitätsforschung (iDiv) 2020 in einer übergreifenden Studie bestätigt. Als Hauptgrund für das Insektensterben führten die Forscher die Lebensraumzerstörung der Insekten an.
Aber die hängt direkt mit der Industrialisierung der Landwirtschaft und der Verbreitung riesiger Monokulturen zusammen, die nicht nur riesige Flächen in Anspruch nehmen und die Vielfalt der Landschaft zerstören. Diese Art Landwirtschaft braucht in der Regel auch riesige Mengen an Pestiziden, um die Ernten zu sichern.
Es geht also nicht nur um den Verzicht auf Pestizide, sondern um eine Umstellung der gesamten Landwirtschaft – hin zu einer nachhaltigen, umweltverträglichen und vor allem Böden und Artenvielfalt schützenden Landwirtschaft.
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