Es ist nicht nur der Osten, in dem das Gefälle zwischen Großstadt und Land immer größer wird: Unternehmen und Arbeitsplätze wandern immer schneller in die Großstädte ab. Wer dennoch auf dem Land leben möchte (oder muss), wird zum Pendeln gezwungen. Und deshalb pendeln auch immer mehr Menschen nach Sachsen rein und aus Sachsen heraus. Was selbst die Arbeitsagentur Sachsen ins Grübeln bringt.

Die sächsischen Unternehmen suchen händeringend Fachkräfte. Allein im vergangenen Jahr wurden den Arbeitsagenturen und gemeinsamen Jobcentern über 103.000 freie Arbeitsstellen gemeldet. Gleichzeitig ist die Zahl der Menschen, die Sachsen zum Arbeiten verlassen, weiter gestiegen, stellt die Arbeitsagentur Sachsen fest. Im vergangenen Jahr sind 140.600 Frauen und Männer ausgependelt, um einer Beschäftigung außerhalb des Freistaats nachzugehen.

Das waren 1.000 mehr als vor einem Jahr. Kräftiger ist die Zahl der Einpendler gestiegen – auf bisher höchstes Niveau. Insgesamt haben vergangenes Jahr 128.500 Frauen und Männer aus anderen Bundesländern oder dem Ausland in Sachsen gearbeitet.

Damit liegt der Pendlersaldo in Sachsen freilich immer noch im negativen Bereich – es verlassen rund 12.000 mehr Menschen den Freistaat für die Arbeit, als für eine Beschäftigung einpendeln. Das geht aus der neuen Jahresstatistik der Bundesagentur für Arbeit hervor.

Hauptziel der Auspendler ist zwar mit 26.542 Personen nach wie vor Bayern. Aber die Pendlerstatistik verwischt auch zum Teil, dass das Bundesland Sachsen nicht deckungsgleich ist mit der Wirtschaftsregion. 24.790 Personen pendeln nämlich auch ins benachbarte Sachsen-Anhalt – und das betrifft vor allem die Chemieregion zwischen Merseburg und Bitterfeld. Ähnliche Effekte gibt es mit Berlin, Brandenburg und Thüringen. Oft genügt ein kurzer Weg über die Landesgrenze.

„Ich freue mich, dass es immer mehr Menschen nach Sachsen zieht. Denn Sachsen ist ein attraktives und modernes Land. Es tut mir nur weh, dass es immer noch deutlich mehr Auspendler gibt“, meint Klaus-Peter Hansen, Vorsitzender der Geschäftsführung der Regionaldirektion Sachsen der Bundesagentur für Arbeit (BA), in völliger Verkennung dieser Beziehungen.

„Sächsische Unternehmen suchen händeringend gute Fachkräfte, die leider noch zu oft in andere Bundesländer fahren, um dort zu arbeiten. Das sollte mit dem Blick auf die hohen Fachkräftebedarfe nicht so bleiben. Sachsen braucht Zuwanderung und wir helfen dabei! Deshalb müssen künftig rückkehrwillige Menschen und Auspendler für Sachsen zurückgewonnen werden. Nur so bleiben sächsische Betriebe im internationalen Wettbewerb konkurrenzfähig.“

Damit bedient er zwar einen Lieblingstopos ostdeutscher Politiker aus jüngster Zeit. Doch der stimmt nur zum Teil. Erstens verkennt er die engen wirtschaftlichen Verflechtungen in Mitteldeutschland. Und zum anderen verkennt er auch die Tatsache, dass selbst in den westlichen Bundesländern in denselben Branchen die Fachkräfte fehlen wie im Osten. Und der Grund liegt oft genug auch an miserablen Arbeitsbedingungen.

Mit Rückkehrerpäckchen löst man dieses Problem nicht.

Bessere Löhne helfen schon eher. Das weiß der zuständige Minister in Sachsen.

„Wir stehen vor der Aufgabe, gleichzeitig den demografischen Wandel, die Digitalisierung und tiefgreifende Veränderungen in einigen Branchen zu meistern“, meint Martin Dulig, Sachsens Arbeitsminister.

„Ein Schlüssel dazu sind gut ausgebildete Fachkräfte, die wir stärker als bisher anziehen müssen. Gute Löhne sind dabei ein entscheidendes Kriterium, da haben wir an vielen Stellen in Sachsen noch großen Aufholbedarf. Das sehen wir auch ganz deutlich bei den Gründen für das Pendeln in ein anderes Bundesland. Wir brauchen insgesamt einen Kulturwandel hin zu einem sozialpartnerschaftlichen Verständnis von Wirtschaft und Arbeit, wir brauchen ‚Gute Arbeit für Sachsen‘. Die Arbeitnehmer sind keine Bittsteller, sondern wichtige Säulen des wirtschaftlichen Erfolges unseres Landes. Gute Wirtschaft und gute Arbeit sind zwei Seiten ein- und derselben Medaille.“

Denn abgewandert sind viele Fachkräfte, als die sächsischen Wirtschaftsminister noch immer eifrig das Niedriglohnland Sachsen anpriesen. Völlig ignorierend, welche sozialen Folgen diese Billigheimer-Politik hat.

Die Motive für das Pendeln können nach Auswertung der Arbeitsagentur sein: Verdienste, Arbeits- oder Rahmenbedingungen (Weiterbildungsmöglichkeiten, Arbeitszeitverteilung, Karrierechancen etc.), gute Infrastruktur in benachbarte Länder.

Außerdem entscheidet jeder Mensch selbst, zu welchen Bedingungen er arbeitet und welche Kompromisse er dafür bereit ist einzugehen. Fakt ist: Rechnerisch lohnt sich pendeln allein wegen des Mehrverdienstes in westdeutschen Ländern unterm Strich nicht immer – aber oft. 847 Euro verdient man mehr, wenn man in Westdeutschland arbeitet (Medianlohn Sachsen: 2.587 und Westdeutschland: 3.434). Von diesem Mehrverdienst gehen dann aber die Kosten des Pendels ab. Dazu gehören beispielsweise die doppelte Haushaltsführung, Fahrkosten, verlorene Zeit für Kinder und Familie, versucht die Arbeitsagentur das Problem mit einer Milchmädchenrechnung zu lösen.

Aber viele Pendler arbeiten in deutlich besser bezahlten Berufen deutlich über dem Medianlohn von 3.434 Euro, der nun einmal per definitionem nur der mittelste aller Löhne ist. Da fällt die Rechnung dann schnell ganz anders aus als mit diesem Medianlohn-Vergleich der Arbeitsagentur.

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