In Deutschland läuft etwas gewaltig schief. Branche um Branche wurde in den vergangenen Jahrzehnten zusammengespart. Das Personal wurde ausgedünnt, die Gehälter wurden gedrosselt. Und das Ergebnis sehen nicht nur Polizisten, die ihre Arbeit nicht mehr schaffen, oder Lehrer, denen die Kollegen fehlen. Noch krasser ist es im Gesundheitswesen, wo das „Kostendämpfen“ sich in Berge von Überstunden beim Pflegepersonal verwandelt hat. Ein Thema, auf das ver.di in der Nacht vom 22. zum 23. Oktober aufmerksam macht.
Es ist ein wenig so wie bei der Berechnung der Gender-Pay-Gap, mit der man den Tag ausrechnet, bis zu dem Frauen – rechnerisch – unbezahlt arbeiten im Vergleich zur Bezahlung der Männer.
Was ver.di am Montag thematisiert, ist sozusagen der Überlauftag: An diesem Tag haben die Pflegekräfte in den sächsischen Krankenhäusern quasi ihr komplettes Arbeitssoll erfüllt – und zwar mit vielen Extraschichten und Überstunden, ohne die der Betrieb in den Krankenhäusern längst nicht mehr aufrechtzuerhalten ist. 2015 meinte zwar Sachsens Sozialministerin Barbara Klepsch (CDU) auf eine Anfrage der linken Landtagsabgeordneten Susanne Schaper hin, in Sachsen würden genug neue Pflegekräfte ausgebildet.
Aber in Wirklichkeit besitzt der Freistaat darüber überhaupt keine Zahlen. Denn was „genug“ ist, bestimmen die ausbildenden Krankenhäuser. Und die wollen zumeist nur eines: sparen.
Der Freistaat plant zwar. Aber das Ergebnis liegt genauso komplett daneben wie bei Lehrern oder – wie es sich gerade abzeichnet – in Kindertagesstätten. Man arbeitet mit Ideal-Modellen, in denen es keine Überlastungen, keine Fehlzeiten, keine Krankheiten und keinen verfrühten Berufsabbruch gibt. Alles Dinge, die aber gerade im Pflegebereich verstärkt auftreten. Und die sich in den letzten Jahren erst recht verstärkt haben, weil die Überbeanspruchungen der Pflegkräfte natürlich zusätzlich Gesundheit und Arbeitsfähigkeit untergraben.
Wie bei den Lehrern.
Falsches Denken führt nicht nur zu falschen Ergebnissen – es zerstört mittlerweile die Arbeitsfähigkeit unseres Gesundheitssystems.
In der Nacht vom 22. zum 23. Oktober beginnt so auch für die Pflegekräfte in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen eben schon mal das neue Jahr, gehen die Pflegekräfte also schon mal in die Arbeitsreserve des nächsten Jahres und über-arbeiten sich. Im vollen Sinn des Wortes.
Die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di hat in den letzten Monaten intensiv mit den Beschäftigten der Pflege zu ihren Arbeitssituationen diskutiert. Vor allem die Arbeitszeit der Kolleginnen und Kollegen stand dabei im Fokus der Betrachtung.
Eine bundesweite Erhebung kommt zu dem Ergebnis, dass statistisch in der Nacht zum 23. Oktober die zur Verfügung stehende Arbeitszeit (Sollarbeitszeit) aufgebraucht ist.
„Für unsere Kolleginnen und Kollegen beginnt das neue Arbeitszeitjahr. Das Soll ist somit voll“, stellt Bernd Becker, Landesfachbereichsleiter Gesundheit und Soziales im ver.di Landesbezirk Sachsen, Sachsen – Anhalt und Thüringen, fest. „Dazu werden bundesweit verschiedene Aktivitäten starten, die genau auf diese Situation hinweisen. So auch in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen.“
Beispielhaft nennt er das Krankenhaus Waltershausen – Friedrichroda in Thüringen, das Herzzentrum Leipzig und das Parkklinikum Leipzig.
Hier werden die Beschäftigten in der Nacht vom 22. zum 23. über die Stationen gehen und mit ihren Kolleginnen auf diesen Tag anstoßen – natürlich alkoholfrei!
An der Uniklinik in Jena stellt sich die Situation etwas zynischer dar, so ver.di. In dem Wissen, dass die Belastungssituation immens ist, wurde dort sogar ein Einstellungsstopp verhängt und befristete Verträge wurden nicht verlängert. Die Begründung liegt in der Entwicklung der Fallzahlen. Aus Sicht der Optimierer ist Pflegepersonal zu teuer, Pflegekräfte müssen immer mehr Patienten (egal, welchen Betreuungsaufwand diese brauchen) versorgen.
Oft genug müssen Nachtschwestern ganze Abteilungen mit dutzenden Patienten ganz allein betreuen, tragen also eine Verantwortung, die kein Arzt trägt. Dass die Bezahlung diesen ständig wachsenden Erwartungen nicht entspricht, muss man gar nicht erst erwähnen. Die deutschen Krankenhäuser sind zu Spar-Objekten geworden. Und während sich die großen Konzerne immer größere Anteile an den Milliarden von Kassenbeiträgen sichern, bleibt immer weniger Geld für die Menschen, die tatsächlich die Versorgung absichern sollen.
Auch in Jena werden, so ver.di, die Beschäftigten aktiv und kreativ die Nacht nutzen und den Kolleginnen und Kollegen Glückskekse und andere „frohe Botschaften“, passend zu ihrer Arbeitssituation, überbringen.
„Die geplanten gesetzlichen Änderungen im Bereich der Pflege sind vom Ansatz her sicher ein erster Schritt, reichen aber nicht aus, um die Situation im gesamten Krankenhausbereich – bezogen auf alle Berufsgruppen – zu verbessern“, stellt Bernd Becker fest. „Hier wird noch einiges an politischer Arbeit notwendig sein um das Gesamtgefüge Krankenhaus gerecht zu finanzieren und damit die Rahmenbedingungen für die Beschäftigten so zu gestalten, dass die Arbeitszeit für alle bis zum Ende eines Jahres reichen wird.“
Leipziger Zeitung Nr. 60: Wer etwas erreichen will, braucht Geduld und den Atem eines Marathonläufers
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Warum wollen wir Menschen, die wirklich arbeiten, nichtmehr bezahlen? Das kann auf Dauer nicht funktionieren.