Man vergisst ja immer wieder, dass Wirtschaftswachstum nicht gleich Wirtschaftswachstum ist. Die deutschen Wirtschaftsinstitute hängen nach wie vor in ihren alten Routinen fest, in denen die Berechnung des Bruttoinlandsprodukts (BIP) als einziger Maßstab für Wachstum gilt. Aber das gilt schon lange nicht mehr für Ostdeutschland. Was selbst das IWH in Halle konstatieren muss. Natürlich mit alter Beleuchtung.

Die Projektgruppe Gemeinschaftsdiagnose prognostiziere in ihrem Herbstgutachten eine Verlangsamung des Aufschwungs in ganz Deutschland, meldet das Institut für Wirtschaftsforschung (IWH) in Halle. Dies sei auch darauf zurückzuführen, dass die Impulse aus dem Ausland, insbesondere dem europäischen, nachgelassen hätten.

Eine Aussage, die natürlich skeptisch macht. Noch am 6. September meldete der „Spiegel“ – nach Zahlen aus zwei ebenfalls am Wirtschaftsgutachten beteiligten Wirtschaftsinstituten: „Die führenden Wirtschaftsforschungsinstitute rechnen für dieses und die kommenden beiden Jahre weiterhin mit stabilem Wachstum. Sowohl das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW), das Ifo-Institut als auch das Kieler Institut für Weltwirtschaft (IfW) sagen bis einschließlich 2020 jährliche Wachstumsraten von zwei Prozent oder knapp darunter voraus.“

Und gerade drei Wochen später heißt die Aussage nun: „Wirtschaftsforscher senken Prognose für 2018 deutlich“?

Das darf man wohl mit ganz spitzen Fingern anfassen. So schnell verändern sich wirtschaftliche Rahmenbedingungen und Auftragslagen nicht.

Nur die Grundprobleme bleiben natürlich dieselben. Es sind die altbekannten, wie das IWH erklärt: „Zugleich fällt es den Unternehmen aufgrund von Kapazitätsengpässen immer schwerer, die Produktion auszuweiten. Beide Argumente gelten in besonderem Maß für Ostdeutschland: Hier ist die Knappheit des Faktors Arbeit, etwa gemessen am Anteil der offenen Stellen an der Gesamtheit aller Stellen, trotz der höheren Arbeitslosigkeit noch größer als im Westen.

Außerdem ist die ostdeutsche Wirtschaft zwar weiterhin insgesamt weniger exportorientiert als die westdeutsche, aber ein besonders hoher Anteil der ostdeutschen Exporte geht ins europäische Ausland. Allerdings hatte die Dynamik im ostdeutschen Verarbeitenden Gewerbe und mit ihm die ostdeutsche Konjunktur schon im Jahr 2017 nachgelassen.“

Das ist alles nicht neu und bietet keine Grundlage für eine weitere Alarmmeldung, mit der wieder nur Stimmung gemacht wird, ohne sich die Entwicklung wirklich im Detail anzuschauen.

So lag nach Meldung des IWH das Bruttoinlandsprodukt in Ost- wie Westdeutschland im ersten Halbjahr 2018 um 1,9 % über dem Vorjahresniveau (Sachsen sogar 2,1 Prozent), was für den Westen eine Abschwächung der Konjunktur bedeute, für den Osten dagegen der Zuwachsrate des Jahres 2017 entspricht.

Das heißt: Vor allem die exportorientierte Industrie in Süd- und Westdeutschland bekommt zu spüren, was zum Beispiel die ganzen Eiertänze des US-Präsidenten Trump bewirken.

In Ostdeutschland sind die Auswirkungen schon deshalb geringer, weil hier die Dienstleistungsbranchen einen viel größeren Anteil am Wirtschaftsbesatz haben. Und je stärker die Dienstleitungsbranche punktuell aufgestellt ist, umso höher ist tatsächlich das BIP-Wachstum in den einzelnen Bundesländern.

Mit den Worten von Oliver Holtemöller, Leiter der Abteilung Makroökonomie und Vizepräsident am IWH: „Während die Dynamik in Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt mit Zuwachsraten von 1,0 % gegenüber dem ersten Halbjahr 2017 besonders schwach ist, können Berlin und Brandenburg mit jeweils 2,3 % überdurchschnittlich zulegen.“

Heißt im Klartext: Die Dienstleistungsmetropole Berlin ist wirtschaftlich das Zugpferd im Osten.

Das BIP-Wachstum im ersten Halbjahr 2018. Grafik: Freistaat Sachsen, Landesamt für Statistik
Das BIP-Wachstum im ersten Halbjahr 2018. Grafik: Freistaat Sachsen, Landesamt für Statistik

Und so sieht es auch das IWH bei genauerem Hinschauen: „Dabei spielt die Wachstumsdynamik im Dienstleistungszentrum Berlin eine wichtige Rolle. Anders als das Verarbeitende Gewerbe legen die Dienstleistungen in Ostdeutschland seit einigen Jahren stets etwas rascher zu als im Westen.

Die Anbieter von Dienstleistungen profitieren von deutlich steigenden verfügbaren Einkommen der privaten Haushalte. Denn die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten nimmt in Ostdeutschland derzeit mit einer Jahresrate von knapp 2 % recht kräftig und trotz schlechterer demographischer Bedingungen nur wenig langsamer als in Westdeutschland zu.“

Man kann die Aussage auch einfach vom Kopf auf die Füße stellen: Die Zahl der besser bezahlten Ostdeutschen nimmt stärker zu, weil vor allem in gut dotierten Dienstleistungsbereichen (IT und Kommunikationstechnologie z.B.) neue Arbeitsplätze entstehen. Die Arbeitsplätze der Zukunft sind nun mal keine Industriearbeitsplätze, sondern eher welche im IT-und Elektronik-Bereich.

Die deutlich steigenden Einkommen erklären, warum die Lagebeurteilung im ostdeutschen Einzelhandel in den vergangenen Quartalen immer günstiger ausgefallen ist, während sie im Westen bestenfalls stagniert, betont das IWH noch etwas, was man in der heutigen BIP-Philosophie ungern betont: Dass bessere Bezahlung – und zwar gerade in bisherigen Niedriglohnsektoren – dazu führt, dass der Konsum zunimmt und damit wieder der Konsum zur Triebkraft für die Wirtschaft wird.

Das wird so ungern betont. Hat in diesem Fall aber mehrere Ursachen. Die eine ist der 2015 endlich eingeführte Mindestlohn. Die andere ist aber der nun seit Jahren offenkundige Mangel an Fachkräftenachwuchs, der dazu führt, dass tausende Ostdeutsche ihre prekären Jobs aufgeben und in besser bezahlte Vollzeitstellen wechseln konnten.

Es ist eben nicht nur die Auftragslage in der exportorientierten Industrie, die eine Wirtschaftsentwicklung stärkt, sondern auch die simple Bezahlung realer Arbeit im Inland. Die bringt nämlich gleich mehrere Geldkreisläufe in Gang. Oder so formuliert: Gut bezahlte Arbeit schafft im Effekt weitere gut bezahlte Arbeitsplätze. Im Inland.

Alles in allem prognostiziert das Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung Halle (IWH) für das Jahr 2018 einen Anstieg des ostdeutschen Bruttoinlandsprodukts mit Berlin um 1,5 % (Gemeinschaftsdiagnose für Deutschland insgesamt: 1,7 %), nach 1,9 % im Jahr 2017.

Im Jahr 2020 dürfte die ostdeutsche Produktion dann in wenig verändertem Tempo (1,7 %) weiter expandieren. Sie hat also ihr eigenes Entwicklungstempo, das nicht so stark von Veränderungen auf den Weltmärkten abhängig ist wie in Westdeutschland.

Die Arbeitslosenquote nach der Definition der Bundesagentur für Arbeit dürfte von 7,6 % im Jahr 2017 auf 6,9 % im Jahr 2018 und 6,6 % im Jahr 2019 sinken (Deutschland insgesamt 2017: 5,7 %, 2018: 5,2 %, 2019: 4,8 %), so das IWH.

Die neue Leipziger Zeitung Nr. 59 ist da: Zwischen Überalterung und verschärftem Polizeigesetz: Der Ostdeutsche, das völlig unbegreifliche Wesen

Zwischen Überalterung und verschärftem Polizeigesetz: Der Ostdeutsche, das völlig unbegreifliche Wesen

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