Wahrscheinlich sitzt Dr. Gerd Lippold über die Feiertage mit gerunzelter Stirn in seinem heimischen Sessel und versucht zu verstehen, was ihm Dr. Fritz Jaeckel, der am 12. Dezember noch als Chef der Sächsischen Staatskanzlei fungierte, mit seiner Antwort auf die Nachfrage zur „Kritik des Ministerpräsidenten an Studie zur Energiewende“ eigentlich sagen wollte. Die Antwort hat mit der panischen Angst der sächsischen Regierung vor dem Kohleausstieg zu tun.

Ängste aber entstehen, wenn man keine Wahl mehr zu haben glaubt, wenn scheinbar nur noch zwei Alternativen vor einem stehen – und die eine ist voller furchterregender Bilder, weil die ganze Zeit immer wieder fesche Manager der Kohlekonzerne in die Staatskanzlei spaziert kamen und den Regierenden vorrechneten, was für eine folgenschwere Ereigniskette die Abschaltung der Kohlekraftwerke nach sich zöge.

Die Angst sitzt tief und wurde beim damaligen sächsischen Ministerpräsidenten Stanislaw Tillich (CDU) auch durch eine eigentlich fundierte Analyse der „Agora Energiewende“ vom 10. November befeuert, die anhand belastbarer Zahlen darlegte, dass Deutschland problemlos 8,4 Gigawatt (GW) an Kraftwerksleistung bei Kohlekraftwerken stilllegen könnte und nach 2020 dennoch jederzeit die Energieversorgung sichern könnte. Auch bei Dunkelflaute.

Doch Tillich reagierte postwendend und wandte sich mit einem von der „Sächsischen Zeitung“ kolportierten Brief sofort an die Bundesregierung. Einige Stellen aus dem Brief, der am 15. November in der SZ veröffentlicht wurde, klangen Dr. Gerd Lipold, dem energiepolitischen Sprecher der Grünen-Fraktion im Landtag, dann doch sehr alarmistisch und schienen so überhaupt nicht zu dem zu passen, was in der Agora-Studie zu lesen war.

Die Zitate:

„Unsere Stabilität in der Energieversorgung wird fahrlässig riskiert, wenn Gutachten wie das der Agora Energiewende suggerieren, die Versorgungssicherheit könnte auch ohne Braunkohleverstromung in jedem Fall gewährleistet werden.“

„Tatsächlich ist es jedoch so, dass für den deutschen Strommarkt 2020 ein Leistungsbilanzdefizit erwartet werden muss.“

„Agora gehe von einer bis 2023 gleichbleibenden Spitzenlast aus. Dies widerspreche aller Erfahrung.“

Tatsächlich kann man über die Folgerungen aus dem Agora-Papier streiten. Hat Agora die Möglichkeiten von Strom-Importen aus dem Ausland überschätzt?

Wahrscheinlich nicht.

„Sich in Knappheitssituationen auf Stromimporte aus dem europäischen Ausland zu verlassen, erscheint jedoch fahrlässig, weil es derzeit keinen europäischen Rahmen für ein grenzüberschreitendes Erzeugungs-Engpassmanagement gibt und beispielsweise Frankreich bei der Sicherstellung der eigenen Versorgungssicherheit ebenfalls zunehmend auf Stromimporte setzt“, heißt es in Jaeckels Antwort. Was eben auch auf ein europäisches Problem verweist: Denn tatsächlich werden jederzeit gigantische Strommengen über alle Grenzen hinweg gehandelt. Und Deutschland hat sich in den letzten Jahren zu einem regelrechten Stromexporteur entwickelt.

Im Agora-Papier heißt es dazu: „Deutschland produzierte 2016 rund 648 Terawattstunden Strom, wovon 595 Terawattstunden im Inland verbraucht wurden. Die verbleibenden rund 54 Terawattstunden (rund 8 Prozent der gesamten inländischen Stromerzeugung) wurden in die angrenzenden Nachbarländer exportiert, insbesondere nach Frankreich, die Niederlande und Österreich (und von dort weiter nach Italien). Für 2017 dürfte sich der Export-Überschuss auf knapp 10 Prozent erhöhen.

Hauptursache für diesen Stromexport ist die hohe Kohlestromproduktion in Deutschland, die trotz der deutlich gestiegenen Erneuerbare-Energien-Stromproduktion kaum zurückgeht. Vielmehr verdrängt sie im Inland und in unseren Nachbarländern Gasstromproduktion. Insbesondere in Österreich, Niederlande und Italien stehen daher viele Gaskraftwerke still.“

In Deutschland übrigens auch. Weil Braunkohle in Deutschland hochsubventioniert ist, kann aus Kohle Strom deutlich billiger erzeugt werden als aus Erdgas. Und weil die Hauptfixkosten bei Kohle im Bergbau entstehen, ist es für die Betreiber der Kraftwerke preiswerter, ihre Meiler dauerhaft laufen zu lassen und den überschüssigen Strom billig an den Börsen zu verkaufen.

Was dann wieder die Strompreise an der Börse in den Keller sinken lässt. Usw.

Und darauf geht Jaeckel auch ein: Wenn bis 2023 die von Agora benannten 20 Braunkohle-Kraftwerksblöcke vom Netz gingen, hätte das natürlich Folgen für den Kohlebergbau. Dann würden nämlich auch einige Tagebaue sofort unrentabel: „Mit einer Abschaltung von 8,4 GW würde – unter Berücksichtigung der ebenfalls bis 2023 vom Netz gehenden Blöcke der sogenannten ‚Sicherheitsbereitschaft‘ – etwa die Hälfte der bestehenden Braunkohle-Kapazitäten stillgelegt. Wenn man bedenkt, dass die Braunkohleverstromung durch relativ niedrige variable Kosten, aber hohe Tagebau-Fixkosten gekennzeichnet ist, könnte eine derartige Reduzierung der Braunkohle-Kraftwerksleistung zudem die Wirtschaftlichkeit des Braunkohle-Tagebaus gefährden, was wiederum Auswirkungen auf die verbleibenden Kraftwerksblöcke hätte.“

Nennt man das eine Katze, die ihm da aus dem Sack geschlüpft ist?

Denn wenn das so ist (und es ist garantiert so), dann hat Jaeckel hier erstmals benannt, was tatsächlich hinter den Kulissen geschieht: ein Hauen und Stechen der  Kohlebergbauunternehmen um die Antwort auf die Frage: Welches Kohlerevier geht zuerst komplett vom Netz?

Es gibt eigentlich nur drei: das von RWE bewirtschaftete im Ruhrgebiet, das von der LEAG betriebene in der Lausitz und das von der Mibrag bewirtschaftete in Mitteldeutschland. Wobei LEAG und Mibrag zur selben Konzernmutter EPH gehören. Es ist also ein Zerren Ost gegen West, vom gebeutelten NRW gegen die drei ostdeutschen Kohleländer. Und wer gezwungen ist, zuerst mehrere Kraftwerkblöcke aus simplen Rentabilitätsgründen stillzulegen, der ist dann auch bald gezwungen, die zugehörigen Tagebaue stillzulegen – denn die rechnen sich nur, wenn eine Mindestabnahmemenge in den angeschlossenen Kraftwerken gewährleistet ist.

Was übrigens ein Thema ist, das separat von der Sicherung der Stromversorgung auch in Spitzenlastzeiten betrachtet werden muss. Denn die Überkapazitäten an Kohlekraftwerken verhindern natürlich den Ausbau von wirklich flexibel zuschaltbaren Kapazitäten – in Gaskraft vor allem. Denn Gaskraftwerke waren ursprünglich als leicht steuerbare Säule der Energiewende vorgesehen. Binnen Minuten können sie beim Ausbleiben von Sonne und Wind hochgefahren werden und Spitzenlasten auffangen.

Und in Leipzig hat der Aufbau einer eigenen, kleinteiligen Versorgerstruktur für Wärme und Strom längst begonnen, die nach 2023 die Fernversorgung aus Lippendorf ersetzen soll. Die Akteure der Energieerzeugung werden andere. Und auch die Steuersysteme verändern sich, werden flexibler, weil nun einmal Wind und Photovoltaik nicht gleichmäßig auf Grundlast arbeiten, sondern natürlichen Schwankungen unterliegen.

Aber selbst die Zahlen der Bundesnetzagentur, die Jaeckel zurate zieht, zeigen, dass Wind und Sonne in der Menge sogar mehr Strom erzeugen werden als die heute an Kraftwerken angeschlossene Grundlast von 97,7 GW. Es geht also vorrangig um die Frage, wie man die Stromversorgung in den durchaus überschaubaren Zeiten absichert, wenn sowohl die Windkraftwerke an Land (41 GW – künftig sogar über 60 GW angeschlossene Leistung), die vor der Küste (offshore, derzeit 3,4 GW, künftig um die 15 GW) und die angeschlossene Photovoltaik (derzeit 40 GW, künftig über 60 GW) nicht liefern können. Eben in der gern zitierten „Dunkelflaute“.

Für diese Extremsituation muss man vorsorgen – stimmt. Aber dafür sind starr vor sich hinfeuernde Kohlemeiler nicht wirklich die Lösung.

Und das kann auch Fritz Jaeckel in seiner Antwort nicht aus dem Weg räumen, die nur deshalb so in sich schlüssig wirkt, weil er unhinterfragt die Argumentation der Kohlekonzerne übernimmt, die natürlich alles dafür tun, dass das Wort „Versorgungssicherheit“ in den Köpfen der maßgeblichen Politiker stets im Alarmmodus aufleuchtet.

Wer so permanent in Angst vorm großen Blackout ist, der hat natürlich keinen Gedanken frei, sich eine anders strukturierte Energieversorgung auch nur vorzustellen. Ganz zu schweigen von den Wegen, wie man diese herstellt und sicher gestaltet.

Die Antwort von Dr. Fritz Jaeckel auf die Anfrage von Dr. Gerd Lippold zu Tillichs Besorgnissen zur Kohleverstromung. Drs.11336

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