Da lag Theresa May augenscheinlich selbst für konservative Parteifreunde völlig falsch, als sie stur auf einen harten Brexit zusteuerte. Das wäre die Variante, bei der der Austritt Großbritanniens den größtmöglichen Schaden angerichtet hätte. Nicht nur für englische Unternehmen, die Zugang zum europäischen Binnenmarkt brauchen. Auch für Unternehmen aus dem Herzen Mitteldeutschlands. Eine eindringliche Warnung aus Leipzig.

Dort wurde am Mittwoch, 14. Juni, der nächste Konjunkturbericht vorgestellt. Ein ganz besonderer, den es aber schon seit 15 Jahren gibt. Aus gutem Grund. Denn seitdem ist die Metropolregion Mitteldeutschland aktiv. Irgendwie. Ursprünglich als Verbund der Großstädte in den drei mitteldeutschen Ländern gegründet, sind einige Städte wieder ausgetreten, dafür sind Landkreise hinzugekommen. Den Landesregierungen geht das Konstrukt am Dings vorbei. Dafür haben sich die größten Unternehmen, die früher ihre eigene Organisation hatten, mittlerweile mit den Städten im Kern zusammengetan.

Und der Blick auf jede Landkarte zeigt: Das Herz dieser Metropolregion sind die Städte Leipzig und Halle.

Logisch, dass gerade hier die IHKs und die Handwerkskammern wissen wollen, ob dieses Herz funktioniert. Was 2003 überhaupt noch nicht sicher war. Denn die Stimmung nicht nur in der Bevölkerung war flau. Auch die der Wirtschaft war im Keller: minus 43 Prozentpunkte zeigte das Konjunkturbarometer damals an. Die Vision einer gemeinsamen Wirtschaftsregion Mitteldeutschland schien auch ein Ansporn zu sein, hier in der einstigen Werkstatt Mitteldeutschlands wieder was auf die Beine zu stellen.

Die Euphorie ist in Teilen verflogen, weil sich alle drei, wirklich alle drei Landesregierungen alle Mühe gaben, das Projekt zu ignorieren.

Doch es ist nicht gescheitert. Das steckt hinter der Botschaft vom Mittwoch: „Konjunkturklima in Hochform“.

Denn wirtschaftliche Entwicklungen richten sich selten bis nie nach politischen Abhängigkeiten. Auch wenn Unternehmen und Kammern immer wieder lange Forderungslisten an die Politik richten – die eher selten und nur wahlweise erhört werden. Was tragisch ist. Was auch die Region Halle/Leipzig in neue Kalamitäten bringt.

Denn auch ein wirtschaftlicher Aufschwung hat seinen Preis.

Die Konjunkturklimaentwicklung in der Region Leipzig / Halle seit 2002. Grafik: IHK zu Leipzig
Die Konjunkturklimaentwicklung in der Region Leipzig/Halle seit 2002. Grafik: IHK zu Leipzig

Und einen wirtschaftlichen Aufschwung erleben die Unternehmen in dieser Region seit 2003 kontinuierlich. Auch wenn die Geschäftseinschätzung bis 2005 im negativen Bereich war. Damals eng verbunden mit der bundesweiten Misere, die sich medial in der Rede vom „kranken Mann Europas“ zuspitzte. Punktgenau 2005 änderte sich das, kam Deutschland endlich aus der Krise. Und die Region Mitteldeutschland auch. Wobei daran erinnert sein muss, dass damals wichtige Unternehmen in Leipzig ihre Produktion aufnahmen – BMW und Porsche, die heute als Autoexporteure auch die Exportentwicklung der Region mitbestimmen – neben Maschinenbau und Chemie.

Ein solcher Aufschwung hat immer mehrere Gründe. Während Krisen meist nur einen haben – so wie 2008/2009 die Finanzkrise, die auch in den Kammerbezirken Leipzig und Halle die Stimmung und die Zahlen verhagelte.

Tatsächlich aber hat diese Krise nur eine Aufwärtsentwicklung unterbrochen, die ab 2010 weiterging und die Konjunkturlaune der befragten Unternehmer in immer neue Höhen trieb.

Was dann am Mittwoch in der jüngsten Frühjahrsbefragung von über 1.700 Unternehmen zum Vorschein kam, war ein neuer Rekord: Der Konjunktur-Klimaindex stieg auf den neuen Höchstwert von plus 81,7 Punkten.

„Da fragt man sich schon, wo das noch hinführen soll“, meinte Dr. Gert Ziener, Abteilungsleiter Wirtschafts- und Bildungspolitik der Leipziger IHK.

Denn in dem Wert stecken nicht nur volle Auftragsbücher (die auch die Handwerkskammern melden) und Industrieumsätze von 37,2 Milliarden Euro (0,5 Prozent weniger als im Vorjahr), sondern auch ein massiver Aufbau von Beschäftigung und vor allem: eine gestiegene Konsumnachfrage.

Bot die Region 2005 (am Tiefpunkt der Entwicklung) gerade einmal 693.000 Menschen einen sv-pflichtigen Arbeitsplatz, so stieg diese Zahl über zwölf Jahre immerfort an, nicht nur in Leipzig. 2015 wurde mit 814.000 sv-pflichtig Beschäftigten erstmals wieder die Beschäftigtenzahl von 2000 überboten. Und es soll weitergehen. Immer mehr Unternehmen planen Neueinstellungen. Fast 50 Prozent klagen schon, dass es immer weniger Fachkräfte gibt, die man einstellen kann.

Was Dr. Ziener stark mit den Fehlentwicklungen im Bildungswesen in Zusammenhang bringt.

Aber mit Verspätung holt die Region natürlich ein Effekt ein, der seine Ursachen in den 1990er Jahren hat. Der damalige Geburteneinbruch sorgt dafür, dass die gesamte Wirtschaft seit 2010 nur noch über halbierte Ausbildungsjahrgänge verfügt. Das bedeutet: Eine Schere tut sich auf.

Entwicklung von sv-pflichtig Beschäftigten und Arbeitslosenquote. Grafik: IHK zu Leipzig
Entwicklung von sv-pflichtig Beschäftigten und Arbeitslosenquote. Grafik: IHK zu Leipzig

Die gemeldete Arbeitslosigkeit hat sich binnen zehn Jahren halbiert. Es gibt also kaum noch Arbeitsmarktreserven, gleichzeitig besagen die Bevölkerungsprognosen, dass die Einwohnerzahl in der Region wieder fällt.

Aber wird sie wirklich fallen?

Seit 2012 ist sie in Wirklichkeit wieder angestiegen. Leipzig wirkt dabei wie ein Magnet. Die Region zieht aus immer größerer Entfernung immer mehr junge Leute an, die hier Arbeit suchen und finden.

Das heißt: Tatsächlich unterscheidet sich diese Kernregion schon auffallend von den umgebenden Landschaften, verhält sich praktisch schon so wie Metropolregionen im Westen – etwa Stuttgart, Frankfurt und München als Beispiel genannt.

Wofür eben nicht Wohltaten der Landesregierungen sorgen, sondern tatsächlich existierende Infrastrukturen, wie Ziener betont: das 2013 in Betrieb gegangene S-Bahnnetz und den Flughafen nennt er, dessen zweite Landebahn 2007 in Betrieb ging. Zum Ärger der Anwohner. Das passt noch nicht zusammen, dass die Nutzer dieser Infrastrukturen einen Konsens zu suchen bereit sind mit den Menschen, die hier leben.

Nicht zu vergessen – was eben doch meist vergessen wird, weil man es für selbstverständlich hält – sind die guten Autobahnanbindungen (und die Autobahnringe) der Region, die sich langsam formierenden ICE-Verbindungen und die großen Güterverkehrszentren.

Was eben bedeutet, dass die Industrie mit ihren 96.000 Arbeitsplätzen zwar irgendwie die erste Geige spielt (mit 33 Prozent Export sowieso), aber die Region in Wirklichkeit dadurch läuft, weil parallel die Logistik rasant zulegte und gleichzeitig die Dienstleistung kräftig gewachsen ist – umsatzmäßig übrigens deutlich stärker als die Industrie, aber von Natur aus natürlich viel kleinteiliger.

Gerade da wird sichtbar, was eigentlich einen Metropolkern ausmacht. Es sind eben nicht nur die großen Vorzeigeunternehmen, sondern es ist die starke Diversifizierung, die auch ein breites Spektrum an Qualifikationen braucht. Die also „jedem etwas bringt“, wie man lax sagen könnte. Zumindest mittel- und hochqualifizierten Fachkräften.

Und die Hochschulen spielen dabei eine wichtige Rolle, denn sie bringen in die Region, was viele der kleinen Unternehmen nicht leisten können: Forschung und Entwicklungspartnerschaften.

Dafür gibt es in beiden Bundesländern sogar Förderprogramme, die aber von den hochausgelasteten Betrieben meist nicht genutzt werden können. Zeit und Personal fehlt, das Abarbeiten der Aufträge ist wichtiger, betont auch Andreas Baer, Abteilungsleiter Unternehmensbetreuung/Allgemeine Verwaltung der Handwerkskammer Halle (Saale). Und auch bei den Handwerkern merkt man jetzt, was es bedeutet, wenn der Nachwuchs fehlt – nicht nur bei Fachkräften, auch bei Betriebsübernahmen. Da werden wohl viele Handwerksbetriebe in den nächsten Jahren einfach aufgeben, wenn die Inhaber keinen Nachfolger finden, sagt Baer.

Euphorie trifft also quasi auf Riesenproblem. Nun, wo der Laden im Herzen Mitteldeutschlands endlich auf Hochtouren läuft, beginnt das Personal zur Mangelware zu werden. Und natürlich ist die Botschaft noch wichtig, dass auch die mitteldeutschen Kammern dringend mahnen, auf keinen Fall einen „harten Brexit“ anzustreben. Denn gerade der Blick auf die Exportbereiche der hiesigen Industrie zeigt, dass Großbritannien zu den wichtigsten Handelspartnern der Region gehört. Was übrigens auch für die USA gilt, wo man ja auch noch nicht so richtig weiß, wohin der unberechenbare neue Präsident steuert.

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