Frรผher war es so: Auf jede gute Lehrstelle bewarben sich dutzende, oft hunderte junge Leute. Viele gingen leer aus, wanderten aus Sachsen ab. Seit ein paar Jahren ist es umgekehrt: Die Ausbildungsbetriebe kรถnnen viele Lehrstellen nicht besetzen. Aber so groรŸ wie jetzt war die Lรผcke noch nie. Die Arbeitsagentur schlรคgt Alarm.

Von Oktober 2016 bis Mรคrz 2017 haben sich insgesamt 16.480 Mรคdchen und Jungen in den Agenturen fรผr Arbeit gemeldet und bei der Suche nach einem Ausbildungsplatz beraten lassen. Das sind 92 oder 0,6 Prozent mehr als im letzten Jahr. Im gleichen Zeitraum wurden den sรคchsischen Arbeitsagenturen 17.187 Ausbildungsstellen gemeldet. Das sind 753 oder 4,6 Prozent mehr als im Vorjahreszeitraum.

Aktuell sind noch 11.022 Schรผler auf der Suche nach einem Ausbildungsplatz. Dem gegenรผber stehen 12.117 freie Ausbildungsstellen. Damit gibt es rein rechnerisch fรผr jeden Bewerber mindestens eine freie Ausbildungsstelle.

โ€žDer Wettbewerb um die besten Nachwuchskrรคfte verschรคrft sich weiter. Aktuell fehlen rechnerisch รผber 1.000 junge Menschen, um die รผber 12.000 freien Lehrstellen besetzen zu kรถnnenโ€œ, stellt Klaus-Peter Hansen, Vorsitzender der Geschรคftsfรผhrung der Regionaldirektion Sachsen der Bundesagentur fรผr Arbeit (BA) fest. Und sucht nach Erklรคrungen dafรผr, dass das so ist. Auch nach falschen, wie sie immer wieder im Schwange sind.

โ€žDer Trend zu hรถherwertigen Abschlรผssen und die hรถhere Studierneigung fischen dem Ausbildungsmarkt zunehmend mehr junge Menschen ab. Das kรถnnen wir uns mit dem Blick auf die steigenden Fachkrรคftebedarfe nicht leistenโ€œ, meint der Arbeitsverwalter, der hier die Argumente einiger Wirtschaftsverbรคnde รผbernimmt, aber vรถllig negiert, dass das sรคchsische Bildungssystem genau so strukturiert ist, dass Kinder und Eltern den bestmรถglichen Bildungsabschluss anstreben mรผssen. Und auch sinnvollerweise anstreben, denn immer mehr Berufe sind heute auch mit einer Hochschulausbildung verbunden. In einer hochtechnisierten Gesellschaft kann es gar nicht anders sein.

Nur haben darauf weder das Bildungssystem noch die Arbeitsvermittlung bislang sinnvoll reagiert.

Es macht schon Sinn, wenn Hansen betont: โ€žDie duale Ausbildung ist die Quelle fรผr Fachkrรคfte. Auf diese neue Situation mรผssen sich Betriebe einstellen. Sie sollten fรผr ihren Betrieb und die Ausbildung werben und auch neue Wege in der Bewerbergewinnung gehen.โ€œ

Aber: Dieser Spruch ist hornalt. Und er richtet sich an die Falschen. Das Bildungssystem selbst muss sich รคndern, muss durchlรคssiger, polytechnischer und ganzheitlicher werden. Doch es ist derart verkrustet und verschult, dass es egal ist, ob Kinder Oberschule oder Gymnasium besuchen: รœber die moderne Arbeitswelt ihrer Heimat erfahren sie so gut wie nichts. Sie sind verkopft und mit lauter Wissensballast vollgestopft, wรคhrend ihnen wichtige Entscheidungsgrundlagen fรผrs Leben schlichtweg fehlen. Viele Jugendliche verschwenden kostbare Jahre auf der Suche nach dem fรผr sie richtigen Berufseinstieg.

Und was rรคt der Chef der Arbeitsagentur?

โ€žDabei empfehle ich, den Focus (sic! โ€“ d. Red.) noch mehr als bisher auf Stรคrken und Talente der Bewerber zu richten. Die jungen Menschen hingegen sind gefordert, ihre Stรคrken, Fรคhigkeiten und Talente gegenรผber den Betrieben besser zu prรคsentieren. Tugenden wie Belastbarkeit, Hรถflichkeit, Teamfรคhigkeit, Lernbereitschaft, FleiรŸ und Pรผnktlichkeit sind auch heute noch besonders wichtig. Jeder Jugendliche, der noch keine Ausbildung hat, sollte seinen Berufsberater bei der Suche nach einer Ausbildung einbindenโ€œ, sagt Hansen.

Das ist eins der Mรคrchen, mit denen sich die heutigen Arbeitsmarktexperten gegenseitig einlullen. Das fรคllt unter unterlassene Hilfeleistung. Man รผberlรคsst es den Oppositionsparteien im Landtag, gegen ein Bollwerk inkompetenter Bildungsverwaltung immerfort anzurennen, und unterstรผtzt sie nicht mal in der Forderung nach einer echten, zeitgemรครŸen Schulreform. Die vor allem Schรผlerpersรถnlichkeiten stรคrkt, die ihren kรผnftigen Chefs nicht erst beweisen mรผssen, dass sie โ€žBelastbarkeit, Hรถflichkeit, Teamfรคhigkeit, Lernbereitschaft, FleiรŸ und Pรผnktlichkeitโ€œ mitbringen.

Dass fast 50 Prozent der Viertklรคssler eine Empfehlung fรผrs Gymnasium bekommen, ist nicht neu.

Dass sie auch in Klasse 10 meist noch nicht wissen, was sie wirklich wollen und was alles mรถglich ist, stellt auch die sรคchsische Arbeitsagentur fest: โ€žDie Wunschberufe der Jugendlichen sind seit vielen Jahren unverรคndert. So entscheiden sich viele junge Menschen fรผr eine Ausbildung zum Verkรคufer, Einzelhandelskaufmann, Kfz-Mechatroniker, Kaufmann fรผr Bรผrokommunikation oder Fachlagerist. Auf den ersten zehn Plรคtzen der Wunschberufe befinden sich weiterhin der Verwaltungsfachangestellte, Mechatroniker, Koch, Industriekaufmann und der Fachinformatiker. Auffรคllig ist, dass sich jeder dritte Jugendliche fรผr einen dieser Wunschberufe entschieden hat. Damit haben sich nur 64 Prozent (10.547 Jugendliche) auf einen anderen, der insgesamt 350 Ausbildungsberufe festgelegt.โ€œ

Klingt toll, ist aber irrefรผhrend. Denn tatsรคchlich heiรŸt das, dass zwei Drittel der jungen Leute eben nicht ihren ursprรผnglichen Wunschberuf ergriffen haben, sondern letztlich umgelenkt wurden.

Es heiรŸt eben auch, dass mindestens 64 Prozent der jungen Leute รผber die Mรถglichkeiten des hiesigen Arbeitsmarktes so gut wie nichts wissen. Ob sie im alternativen Ausbildungsplatz dann glรผcklich werden, weiรŸ natรผrlich auch die Arbeitsagentur nicht. Sie hat ja nur die statistischen Zahlen, keine Analyse davon, wie die Findungsphase der jungen Leute tatsรคchlich verlรคuft und ob sie nach Ende ihrer Ausbildung tatsรคchlich das Gefรผhl haben, im richtigen Beruf zu sein.

Dass man das in der Arbeitsagentur vรถllig anders sieht, aus einer ganz anderen Perspektive als die Jugendlichen, steckt in diesem Satz: โ€žDeshalb sollten Jugendliche zu ihrem Wunschberuf auch Alternativen entwickeln. Oft liegt der Schlรผssel fรผr einen erfolgreichen Berufseinstieg direkt vor der Tรผr, zum Beispiel hinter einer ungewohnten Berufsbezeichnung oder in einem kleinen oder weniger bekannten Betrieb.โ€œ

Das ist das alte Verwaltungsdenken, in dem man die Ausbildungsbewerber gern passend haben mรถchte fรผr den Markt. Die jungen Leute haben also ein doppeltes Problem: Selbst stecken sie in einer vรถllig unรผbersichtlichen Orientierungsphase. Und die Agentur will sie gern da hinstecken, wo der gemeldete Bedarf am grรถรŸten ist. Das passt nicht organisch zusammen. Und es hat mit einer souverรคnen Berufswahl auch nicht viel zu tun.

Es sei denn, der junge Bewerber entscheidet sich fรผr einen Beruf, an den er in seinem ganzen Schulleben nie gedacht hat. Die Arbeitsagentur schlรคgt vor: โ€žSo stehen zum Beispiel fรผr die Berufe Fleischereifachverkรคufer, Verfahrensmechaniker, Fachkraft Lebensmitteltechnik, Dachdecker und den Verfahrensmechaniker mehr als zehn freie Lehrstellen pro Bewerber gegenรผber.โ€œ

Aber die Berufsberatung vor Ort werde das schon deichseln, meint die Arbeitsagentur Sachsen: Weitere Informationen finden Sie unter www.dasbringtmichweiter.de oder unter der gebรผhrenfreien Hotline (0800) 4 5555 00 fรผr Jugendliche und (0800) 4 5555 20 fรผr Arbeitgeber.

Zugabe: In Leipzig kamen im Mรคrz 2.001 Bewerber auf 1.939 angebotene Lehrstellen. Im Mรคrz 2017 hat sich das Verhรคltnis vรถllig umgedreht, da kamen 1.786 Bewerber auf 2.180 angebotene Ausbildungsplรคtze.

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Wie viele Lehrstellen werden von einem tatsรคchlichen Betrieb angeboten?
Wie viele Lehrstellen haben nicht nur den Abschluss der Ausbildung, sondern auch die tatsรคchliche รœbernahme in ein Arbeitsverhรคltnis zum Ziel?

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