„Mit unserem sächsischen Erfindergeist, der Anpassungsfähigkeit an neue Herausforderungen, Weltoffenheit und Mut zum Wagnis werden wir die vielfältigen und komplexen Aufgaben, die in den kommenden Jahren auf uns warten, angehen“, schwärmte am Sonntag, 21. Februar, Sachsens Wirtschaftsminister Martin Dulig, als er den neuen Standortbericht für Sachsen vorstellte.

„Dazu zählt auch die digitale Revolution – welche wir als Chance und nicht als Gefahr begreifen sollten. Nutzen wir die Potentiale, welche der Standort Sachsen bietet und steigern wir so unsere Wettbewerbsfähigkeit“, meinte er noch.

Das sind alles Luftblasen. Auch wenn der Bericht gespickt ist mit Tabellen, in denen Sachsen mit hübschen prozentualen Zuwächsen scheinbar immer in der Spitzengruppe ist. Gerade wenn es um Zuwächse beim Bruttoinlandsprodukt (BIP) geht. Da hilft dann der Blick auf Seite 15 des Berichtes, wo ziemlich nüchtern zu sehen ist: Beim BIP liegt Sachsen erst bei 70,7 Prozent des Niveaus in den alten Bundesländern. Beim BIP berechnet auf Erwerbstätige, sind es immerhin 76,1 Prozent.

Die riesige Lücke (und es ist eine riesige Lücke) kommt vor allem durch das völlige Fehlen eines produktiven Mittelstandes zustande. In Sachsen entstehen zwar seit 2009 immer neue Arbeitsplätze – aber nicht in den hochproduktiven Bereichen, sondern vorrangig in der Dienstleistung.

Und weil das so ist, wird auch beim Vergleich der Wirtschaftskraft europaweit deutlich, dass Sachsen keineswegs mit Bayern oder Baden-Württemberg vergleichbar ist (142 und 140 % des EU-Niveaus), sondern wieder eher mit Zypern (94 %), Malta (85 %) oder der Tschechischen Republik (82 %): Sachsen kommt auf 89 Prozent. Und das auch nur, weil die drei Großstädte eindeutig den ganzen Rest des Landes mitziehen: Leipzig schafft immerhin 96 Prozent des EU-Niveaus, Dresden 89 Prozent, Chemnitz 85 Prozent.

Die wichtige Einschränkung: Das sind die Werte von 2012. Es kann durchaus sein, dass Sachsen da inzwischen zu Ländern wie Italien (101 %) oder Spanien (94 %) aufgeschlossen hat. Aber einige Namen in der Liste lassen aufmerken. Hamburg etwa, das 197 Prozent des EU-Niveaus schafft, Bremen mit 159 Prozent und auch Berlin mit 114 Prozent. Armutshauptstadt Berlin?

Nicht wirklich. Mit den 114 Prozent ist Berlin im Osten eindeutig die Nr. 1 und funktioniert eben nicht nur als Stadtstaat, sondern auch als Metropolenkern.

Und das ist das Problem am Duligschen Standort-Bericht: Er ist so auf das alte Wirtschaftsdenken fixiert, dass er die Entwicklung der Metropolstrukturen, die sich überall in Deutschland bemerkbar machen, einfach ausblendet. Es gibt eine ganze Latte von Zahlen etwa zu Autobahnkilometern, Flughafenentwicklungen, Gütertransport, Kfz-Bestand. Aber die Existenz von Schienenwegen oder ÖPNV wird völlig ausgeblendet. Als hätte man in Dresden noch nicht einmal eine Vorstellung davon, wie Metropolen funktionieren und wie die Konzentration von leistungsfähigen Verkehrsstrukturen die Metropolen-Entwicklung verstärkt.

Denn die Industrie, auf die sich weite Teile des Berichts fokussieren, bevorzugt schon aus höchstem Eigeninteresse verdichtete Verkehrsräume für ihre Ansiedlung.

Sachsen hat zwar eines der dichtesten Straßennetze Deutschlands, plant aber immer noch weitere Milliarden in den Ausbau zu stecken, obwohl das jenseits der Verdichtungsräume schlicht rausgeschmissenes Geld ist.

Dazu gehört aber auch das Wissen darum, dass die Industrie seit 1991 immer nur die Nr. 3 in der Bruttowertschöpfung war. Der große industrielle Umbruch im Jahr 1990/1991 hat dazu geführt, dass seitdem immer der Dienstleistungssektor den größten Teil an der Bruttowertschöpfung lieferte. Im Jahr 2014 immerhin fast 48 Milliarden Euro. Und die wirklich umsatzträchtigen Dienstleister sitzen ebenfalls nicht in kleinen Städten oder gar Dörfern, sondern bevorzugen genauso die verkehrstechnisch und telekommunikationstechnisch besser ausgebauten Großstädte. Das ist einfach eine Sache der Effizienz: Da, wo sich Strukturen konzentrieren, ist der Aufwand für die Installation von moderner IT deutlich geringer.

Die Industrie trug 2014 übrigens knapp 18 Milliarden Euro zur Bruttowertschöpfung bei, fast genauso viel wie der Bereich „Handel, Verkehr und Lagerei, Gastgewerbe, Information und Kommunikation“, der in Teilen eigentlich auch wieder Dienstleistung ist. Denn moderne Produkte sind eben nicht nur schwere Maschinen oder Autos, die man anfassen kann, sondern immer öfter digitale Dienstleistungen. Und diese Zeitenwende findet in den Großstädten statt.

Das Baugewerbe trug dann noch 7 Milliarden Euro zum Kuchen bei, die Landwirtschaft gerade mal 900 Millionen Euro. Und auch das ist ein Grund, warum junge Menschen die ländlichen Räume in Scharen verlassen: Sie finden dort schlichtweg keine Arbeit mehr. Die Arbeitswelt hat sich seit 1991 gründlich verändert.

Und das macht sich eben auch in der Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts bemerkbar: Die Produktionszuwächse finden fast ausschließlich noch in den drei Großstädten und ihrem direkten Umfeld statt. Die „Netzknoten“ verdichten sich. Die Unternehmen siedeln sich hier an, die Menschen ziehen hin. Und zumindest bis 2014 war es so, dass Städte wie Leipzig oder Dresden auch so stark wirkten, dass sie den Bevölkerungsrückgang in Sachsen bremsten und die Zuwanderung anfeuerten.

Der neue Standortbericht. Cover: Freistaat Sachsen / SMWA
Der neue Standortbericht. Cover: Freistaat Sachsen / SMWA

Die Tabellen im Bericht zur Bevölkerungsentwicklung zeigen, wie sich seit 2009 die Abwanderung aus dem Freistaat quasi in Luft aufgelöst und einem Zuwanderungsplus Platz gemacht hat. Trotzdem jammern Dresdner Minister und Fraktionsvorsitzende, sie würden „unsere demografischen Probleme“ nicht in Griff bekommen. So, wie sie  es versuchen, wird das auch nie gelingen.

Denn um das Thema anzupacken, müssten auch die Wahlgewinner, die ihre Mandate aus den ländlichen Räumen holen, akzeptieren, dass die ländlichen Räume in der jetzigen Struktur keine Zukunft haben. Die Menschen dort ahnen es wohl zumindest, auch wenn sie ihren Frust an hilflosen Flüchtlingen auslassen. Das ist auch ein Frust, der aus dem Widerspruch der nun seit 25 Jahren anhaltenden Verheißungen und den zunehmend ausgedünnten Verhältnissen vor Ort resultiert.

Tatsächlich wäre es höchste Zeit, dass nicht nur in Sachsen, sondern in ganz Mitteldeutschland eine konzentrierte Entwicklungspolitik für die Netzknoten, also die attraktiven Großstädte in Gang kommt. Hier sind die dichten und teuren Infrastrukturen, die die moderne Wirtschaft braucht. Das muss man stärken, nicht schwächen, wie es die aktuelle CDU/SPD-Regierung wieder tut. Die Wirkung für die ländlichen Räume entsteht nicht im ersten Schritt, sondern im zweiten: dann nämlich, wenn die Klein- und Mittelstädte durch einen attraktiven ÖPNV nicht erschlossen werden, sondern angeschlossen an die Metropolkerne. Stichwort: S-Bahn.

Erst die funktionierenden Metropolkerne sorgen dafür, dass sich ihr Einzugsbereich stabilisiert, nicht umgekehrt.

Doch darauf ist sächsische Politik überhaupt nicht zugeschnitten. Tatsächlich macht man Politik, als gäbe es die drei Großstädte gar nicht und das Land würde einfach ausbluten. Was es nicht tut. Es packt nur quasi seine Koffer und zieht unentwegt in die Großstädte, das Bevölkerungswachstum konzentriert sich dort, die Aufgaben wachsen.

Und gerade die Gewalt- und Wutausbrüche in der Provinz zeigen, dass der Vermittler fehlt, der den gewünschten Wählern einmal nicht erzählt, man würde die Provinzen weiterhin pampern und alles bliebe gut. Bleibt es einfach nicht. Die Bürger merken es doch, wie Schulbusse immer länger fahren, Discounter schließen, weil der Umsatz fehlt, Arztpraxen unbesetzt bleiben, weil die Patienten ausbleiben, und auch die Handwerksbetriebe ohne Nachfolger bleiben, weil sich mit immer weniger (jungen) Menschen im Ort kein Umsatz mehr generieren lässt. Modernes Wirtschaften ist nun einmal eines, das dringend auf die Netzstrukturen der Großstadt angewiesen ist.

Dahin geht jetzt die komplette wirtschaftliche Entwicklung. Ob davon später auch wieder die mittleren und kleinen Städte profitieren, hängt wieder von so simplen Dingen wie einem guten ÖPNV-Netz ab.

Die aktuelle Wirtschaftspolitik in allen drei Ländern in der Region passt nicht mehr zur wirtschaftlichen Wirklichkeit. Und das wirkt auf ganz handfeste Weise auf die politische Wirklichkeit zurück. Man kann das auch (wie es derzeit passiert) ignorieren. Dann setzen sich die Prozesse trotzdem durch – aber wesentlich chaotischer und mit tragischen Begleiterscheinungen.

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