Während am Wochenende die ganze Aufmerksamkeit auf den Vorkommnissen im 870-Einwohner-Nest Clausnitz im Erzgebirge lag, veröffentlichte Sachsens Wirtschaftsminister Martin Dulig (SPD) den neuen Standortbericht zu Sachsen. Ein üppig mit Grafiken gespicktes Heft, das zeigt, dass die alte - auf Dörfer fixierte - Landespolitik nicht mehr funktionieren kann.
Das Problem in Sachsen ist, dass die Regierungspartei CDU ihre Macht in den vergangenen 25 Jahren vor allem auf ihre Dominanz in den ländlichen Räumen aufgebaut hat. Hier gewinnt sie die meisten Direktmandate. Hier sorgen Landräte und Bürgermeister dafür, dass die Mehrheiten gehalten werden. Das hat sich Sachsens Regierung immer viel Geld kosten lassen – auch etliche Millionen für Autobahnanschlüsse, Gewerbeparks, Ortsumgehungen usw., die den Bewohnern der sächsischen Provinz immer das Gefühl gegeben haben: Der Fortschritt kommt auch hier noch an. Irgendwann biegt ein großer Lkw-Konvoi genau hier von der Straße ab und ein neuer Industriegigant mit vielen Arbeitsplätzen entsteht.
Und da man an dieser alten und teuren Gießkannenpolitik immer festgehalten hat, entstand logischerweise ein zunehmender Widerspruch zwischen Erwartung und Wirklichkeit. Die neuen Straßen waren da – aber eigentlich nur, damit sich die Bewohner der kleinen Städte und großen Dörfer Tag für Tag in Bewegung setzten, um in den großen Städten zur Arbeit zu fahren. Das kann funktionieren, wenn dabei auch die sozialen Infrastrukturen vor Ort erhalten werden können – Schulen, Kitas, Krankenhäuser, Sparkassen, Supermärkte usw. So, wie es in großen Teilen der westlichen Flächenländer funktioniert.
Aber in den ostdeutschen Flächenländern funktioniert es nicht. Auch wenn im von Martin Dulig vorgelegten Bericht „Standort Sachsen im Vergleich mit anderen Regionen 2015“ sogar ein ganzes Kapitel dem Mittelstand gewidmet ist. Das postsozialistische Dilemma aller ostdeutschen Länder ist: Sie haben überhaupt keinen Mittelstand.
Auch in diesem Kapitel kommt er nicht vor, denn es berichtet vor allem über Gründer und Selbstständige.
Erst am Ende gibt es eine Tabelle zu den Betriebsgrößenklassen. Und da wird sichtbar, dass das, was in westlichen Bundesländern als gesunder Mittelstand gilt, nämlich ein zumeist inhabergeführtes Unternehmen mit 500 bis 1.000 Angestellten, in Sachsen augenscheinlich schon die Klasse der Großunternehmen bildet.
Von 114.458 registrierten Unternehmen gehören nur 213 der Klasse mit 500 und mehr Beschäftigten an. Da sind auch eine Handvoll Unternehmen mit mehr als 1.000 Beschäftigten dabei, keine Frage, solche wie die VNG oder die Stadtwerke Leipzig. Eine feinere Statistik, die die wirklich großen Unternehmen nicht einmal herausfiltert, gibt es in Sachsen leider nicht. Aber selbst wenn wir annehmen, dass 200 Unternehmen in der Größenordnung 500 bis 1.000 Angestellte zu finden sind, dann bedeutet das an der sächsischen Unternehmensstruktur einen winzigen Anteil von nicht einmal 0,2 Prozent.
Das haben die ach so wirtschaftskompetenten Politiker hierzulande bis heute nicht begriffen, was das bedeutet. Auch nicht, welchen Anteil die desolate Treuhand-Politik der frühen 1990er Jahre daran gehabt hat. Erhard Kaps hat ja weiland in seinen eindrucksvollen Erinnerungsbüchern im Tauchaer Verlag davon erzählt, wie schwer es den in DDR-Zeiten enteigneten Unternehmern auch nach 1990 gemacht wurde, wieder in die Verfügung ihrer alten Fabriken zu kommen.
Aber das Ergebnis dieser völlig falsch gewichteten Treuhand-Politik ist natürlich das, was auf jedem Unternehmerempfang und in jeder Statistik zu sehen ist: Es gibt in Sachsen keinen nennenswerten Mittelstand. Das Bild wird von Kleinunternehmern geprägt – oder den Managern von großen Produktionsstandorten, deren Konzernmütter in südlichen Bundesländern sitzen. Mit wem macht da ein Wirtschaftsminister eigentlich eine auf das Land zugeschnittene Wirtschaftspolitik?
Es ist fast unmöglich.
Ein Ergebnis sieht man im Kapitel „Forschung und Entwicklung“, wo hübsch von „Humanressourcen in Wissenschaft und Technologie“ und „FuE-Intensität“ geträumt wird. FuE steht für Forschung und Entwicklung. Aber genau hier wird sichtbar, was den Unterschied ausmacht: Scheinbar ist die FuE-Intensität mit 2,74 Prozent am Bruttoinlandsprodukt (BIP) fast genau so hoch wie im gesamtdeutschen Durchschnitt (2,84 Prozent). Aber im Bundesdurchschnitt stammen zwei Drittel der Forschungsgelder direkt aus der freien Wirtschaft und werden zumeist dort auch wieder in die Produktentwicklung investiert. Nur ein Drittel stammt von Land und Bund. In Sachsen aber ist es andersherum.
Die Formel lautet: Fehlender Mittelstand = fehlende Forschung aus der Wirtschaft.
Was ja ein Grund dafür ist, warum Sachsen so viel Geld in Ingenieurhochschulen und Technische Universitäten steckt – sehr zur Freude der südlichen Bundesländer, die Ingenieure aus Sachsen mit Kusshand nehmen. Bis heute ist das große Rätsel: Wie bekommt man wieder mehr Forschung in der Wirtschaft, wenn der forschungsstarke Mittelstand fehlt?
Dass der Mittelstand fehlt, ist natürlich nicht in erster Linie der Treuhand anzulasten. Auch das kann man ja bei Erhard Kaps nachlesen, der als Selbstständiger alle Enteignungswellen in der SBZ und in der DDR miterlebt hat. Für die Leute, die immer noch an die Segnungen der Planwirtschaft glauben: Mit der unter Honecker gestarteten dritten Enteignungswelle 1972/1973 hat die DDR die letzten Reste des noch überlebenden Mittelstandes verloren und sich wirtschaftlich die Beine weggeschossen. Ein Fakt, der leider 1990/1991 viel zu wenig bedacht wurde, als das große Experiment eines Komplettverkaufs der DDR-Wirtschaft gestartet wurde.
Geblieben ist zwar der alte Glanz eines wirtschaftlich starken Sachsens, das mal die „Werkstatt Deutschlands“ war. Aber eben nur bis 1945.
Was wir heute haben, ist nur ein schwacher Abglanz. Und die Tabellen, die im Bericht auch den Vergleich von BIP, Industrie- und Exportquote mit anderen Bundesländern zeigen, zeigen eben auch, dass Sachsen unter den fünf Schwachen im Osten nur ganz wenig herausragt. Bei einem Bevölkerungsanteil von 5 Prozent hat Sachsen an der Bruttowertschöpfung der deutschen Industrie nur einen Anteil von 3,1 Prozent. Und da die Exportquoten in der Regel nur allein auf die Industrie berechnet werden, sehen 37,5 Prozent für Sachsen erst einmal stolz aus – aber Bundesländer wie Bremen, Baden-Württemberg, Berlin oder Bayern kommen auf über 50 Prozent.
Mit dem Wert ist zwar Sachsen wieder unter den ostdeutschen Flächenländern König, aber auch das verrät, dass die tragenden Strukturen dünn sind.
Aber zu den Strukturen kommen wir noch. Denn zu denen gehört nicht nur der (fehlende) Mittelstand.
Der Standort-Bericht versucht Sachsen sogar irgendwie in den europaweiten Vergleich einzuordnen. Aber das ist ja immer wieder Thema bei der Definition von EU-Förderregionen. Mit einem Wert von 91 Prozent des durchschnittlichen EU-BIP (2013) liegt Sachsen signifikant unter dem deutschen Durchschnitt von 122 Prozent, landet etwa auf der Höhe von Zypern (89 %) und hinter Spanien (94 %). Der EU-Durchschnitt wird vor allem durch die osteuropäischen Länder gedrückt. Polen etwa kommt auf 67 Prozent (mit krassem Gefälle innerhalb des Landes) und die Tschechische Republik auf 82 Prozent.
Und da Polen schon erwähnt wurde: Die krassen Unterschiede innerhalb des Landes haben die letzten Wahlen dort entschieden. Das zahlenmäßig größere arme Polen hat über das etwas reichere Polen triumphiert. Hat das etwas mit Sachsen zu tun?
Eine ganze Menge.
Dazu kommen wir gleich im zweiten Teil des Beitrags.
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