Es sind manchmal keine großen Schritte für die Menschheit, aber kleine Fortschritte für die Bürger, wenn der Europäische Gerichtshof mal wieder feststellt, dass deutsches Recht noch immer nicht dem europäischen Recht angepasst ist. So geschehen mal wieder am Donnerstag, 15. Oktober. Wobei Bürger und Umweltverbände auch auf europäischer Ebene eine Schweinegeduld haben müssen.
Denn Klage eingereicht gegen die Zugangsbeschränkungen von Bürgern, Umweltverbänden und Gemeinden bei Umweltverträglichkeitsprüfungen in Deutschland wurde schon 2006. Dabei ging es um die Umsetzung von Richtlinien, die schon 1985 und 1996 formuliert wurden, aber bis 2005 immer noch nicht in deutsches Recht umgesetzt worden waren. Bis 2012 dauerte es, bis die EU-Kommission ein Mahnschreiben an die Bundesregierung adressierte, die dann im Februar 2013 reagierte: “Die Bundesrepublik Deutschland antwortete auf dieses Mahnschreiben mit Schreiben vom 30. November 2012. Am 6. Februar 2013 bat sie die Kommission, das Verfahren einzustellen, weil die deutschen Rechtsvorschriften seit dem Erlass des Umwelt-Rechtsbehelfsgesetzes in geänderter Fassung mit dem Urteil Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland, Landesverband Nordrhein-Westfalen (C-115/09, EU:C:2011:289) im Einklang stünden.”
Die EU-Kommission reagierte mit einer Stellungnahme, auf die dann die Bundesregierung wieder reagierte. Aber die Antwort befriedigte nicht. Die EU-Kommission zog vor den Europäischen Gerichtshof und bekam jetzt in großem Umfang Recht. Von sechs Rügen durch die EU-Kommission hat das Gericht fünf anerkannt.
Auch die Rügen Nr. 4 und 5: “zeitliche Begrenzung der Klagebefugnis von Umweltverbänden und Beschränkung des Umfangs der Rechtmäßigkeitskontrolle auf Rechtsbehelfe wegen Verletzung nationaler Rechtsvorschriften, die Rechte Einzelner begründen.”
Und so kommentiert denn auch die in Würzburg und Leipzig ansässige Kanzlei Baumann Rechtsanwälte, die unter anderem mehrfach erfolgreiche Klagen zu deutschen Flughäfen vor Gericht durchgesetzt hat, das Urteil der Zweiten Kammer des Europäischen Gerichtshofs als Erfolg für die bislang restriktiv gehandhabte Bürgerbeteiligung bei Umweltverfahren in Deutschland – was übrigens auch den Planfeststellungsbeschluss für den Flughafen Leipzig / Halle betrifft.
“Gravierende Verstöße des deutschen Umweltrechts” seien festgestellt worden und die “entsprechenden Rechtsvorschriften als unionrechtswidrig beanstandet”. Das Gericht hat in seinem Beschlussprotokoll die ganze Latte zum Teil sich widersprechender Regelungen zu Beteiligungsrechten und ihrer zeitlichen oder durch Betroffenheit definierten Einschränkung in deutschen Gesetzestexten aufgelistet.
“Deren Anwendbarkeit in deutschen Verwaltungsverfahren und Verwaltungsgerichtsverfahren ist daher nicht mehr zulässig”, kommentiert die Kanzlei Baumann das Urteil.
So beträfe das bislang eingeschränkte Recht der Betroffenen etwa den Fall, “dass der vollständige Sachverhalt mit allen Umwelteingriffen von Einwendern im Genehmigungsverfahren noch nicht vollumfänglich erkannt oder dargestellt wurde. Beeinträchtigungen wurden dann von Betroffenen auch nicht umfassend eingewendet. Dies hatte regelmäßig dazu geführt, dass Klagen vor den Verwaltungsgerichten verloren wurden. Der EuGH hat heute entschieden, dass es unzulässig ist, die Klagerechte unter dem Gesichtspunkt einzuschränken, dass bestimmte Einwendungen von den Klägern im verwaltungsbehördlichen Verfahren nicht geltend gemacht worden sind. Allenfalls missbräuchliches oder unredliches Vorbringen könne zur Beschränkungen des Rechtsschutzes führen.”
Auch das betrifft den Flughafen Leipzig / Halle, denn das tatsächliche Lärmgeschehen wurde im Planfeststellungsverfahren niemals abgebildet. So fehlten – anders als später beim Großflughafen BER – belastbare Klagegründe für die Betroffenen.
Und gestärkt werden die Rechte der Bürger auch durch die Feststellung des Gerichts, dass die Bundesrepublik den Zeitraum für die Einspruchsrechte nicht willkürlich einengen darf oder gar für den kompletten Zeitraum vor 2005 völlig ausschließen.
Rechtsanwalt Wolfgang Baumann von der Kanzlei Baumann Rechtsanwälte Partnerschaftsgesellschaft mbB hebt die Bedeutung der heutigen EuGH-Entscheidung hervor: „Das Urteil betrifft eine Vielzahl von Projekten in der Bundesrepublik Deutschland. Es eröffnet neue Rechtsschutzmöglichkeiten für Bürger und Gemeinden, aber auch für Umweltverbände. Der Gerichtshof hat damit unser Vorbringen in verschiedenen Beschwerden zur Kommission als berechtigt angesehen. Deswegen war es mehr als gerechtfertigt, dass die EU-Kommission eine Klage gegen die Bundesrepublik Deutschland beim Europäischen Gerichtshof eingereicht hat. Gerade der Wegfall der im Rahmen der Beschleunigungsgesetze eingeführten Präklusion lässt viele Kläger in laufenden Gerichtsverfahren zu Umwelteingriffen wieder hoffen!“
Präklusion bedeutet, dass Einsprüche nur innerhalb einer gewährten Frist akzeptiert werden. Wenn sich später herausstellt, dass im Projekt trotzdem gegen wichtige Umweltauflagen verstoßen wurde, stehen Bürger, Gemeinden und Verbände bislang vor dem Problem, dass ihre Klagen keinen Erfolg haben, weil sie nicht im von der Verwaltung gewährten Beteiligungsfenster vorgebracht wurden.
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