Das erste Halbjahr ist jetzt von den sächsischen Statistikern auch wieder ein bisschen auf das Thema Wirtschaft hin abgeklopft worden. Wer sich erinnert: Im Frühjahr herrschte Alarmstimmung in allen Instituten. Russland, Griechenland, China, Frankreich - überall Misere. Wieder mal alle Exporte bedroht. China beherrscht bis heute die Medien. Und was machen Sachsens Unternehmen? Steigern die Produktion.
So wenig Wirtschaftskompetenz, wie derzeit in den einschlägigen Wirtschaftsinstituten des Landes den Ton angibt, gab es lange nicht. Das ist nicht nur ein deutsches Problem. Darauf ging auch jüngst Wolfgang Münchau in seiner Kolumne auf “Spiegel Online” ein: “Warum linke Parteien in Europa scheitern”. Sie scheitern ja nicht, weil sie doof sind, sondern weil sie bauernschlau sein wollten und in den letzten 25 Jahren alle rechts geblinkt haben, weil sie unbedingt in die “Mitte” wollten – man denke nur an die Herren Blair und Schröder. Sie haben dabei nicht nur ihre Prinzipien über Bord geschmissen, sondern auch ihren Verstand. 100 Jahre Erfahrung einfach mal – war ja im Trend der Zeit – zum “Müll der Geschichte erklärt” und sich dem Zeitgeist angedient. Der war gierig, besoffen vom “Sieg des Westens” und von den Erfolgen einer Denkhaltung, die seit den 1970er Jahren von den USA ausgehend die Wirtschaftslehrstühle der westlichen Welt eroberte: Neoliberalismus.
Neoliberalismus als Allheitmittel der Welt
Die Schule gibt es schon seit 90 Jahren. Aber seit Milton Friedman wird sie gehandelt, als wär’s das Allheilmittel für die Welt, auch wenn es nur eine sehr enge, sehr spezifische Sicht auf Wirtschaften ist, im Grunde eine komplett aufs Betriebswirtschaftliche reduzierte: Ganze Staaten und Volkswirtschaften werden betrachtet wie managergesteuerte Konzerne. Was nur “kostet”, wird entsorgt, outgesourct. “Produktionskosten” werden gedrückt, Staatsquoten “gesenkt”. Jeder hat zuschauen können: Renten, Sozialsysteme, Polizisten, Lehrer, Hochschulprofessoren, Studiengänge, Finanzbeamte … sogar die: weg damit.
Wie man Staaten mit so einer Herangehensweise demoliert, ist gerade in Griechenland zu sehen. In England eigentlich auch, nur redet man nicht so gern darüber. Außer Labour endlich wieder. Wo zumindest ein paar Leute begriffen haben, dass Länder nicht reicher werden, wenn immer nur die Reichen reicher werden. Reicher werden Länder, wenn alle am Wohlstand partizipieren. Dann funktioniert sogar Wirtschaft, weil die Leute sich was leisten können, Dinge kaufen, altes Zeug ersetzen, auch mal wieder ins Kino gehen oder ins Restaurant.
Es war ganz folgerichtig, dass die kaputtgesparten “Märkte” den sächsischen Exporteuren verloren gingen. Aber was tun die Unternehmer? Schreiben sie Bettelbriefe an die Regierungen? Da wären sie ganz schön doof. Dazu sind sie jetzt auch schon zu lange im Haifischbecken. Die meisten scheinen ein gutes Gespür zu haben für die Märkte, auf denen (wieder) was geht.
Die Chinesen kaufen weniger Autos und Maschinen, weil auch die unheilige Ehe zwischen Kommunistischer Ein-Parteien-Herrschaft und Neoliberalismus ihre Grenzen hat.
Dann versucht man es vielleicht doch wieder in Europa. In Italien und Spanien scheint sich ja die Lage beruhigt zu haben. Und Frankreich ist vielleicht doch nicht so krank, wie es immer beschrieben wird. Ergebnis: “Die Exporte in den Euroraum erhöhten sich um 24,8 Prozent, ins übrige Ausland gingen 3,8 Prozent mehr Lieferungen. Auf das Euro-Währungsgebiet entfiel mit 6,0 Milliarden Euro gut die Hälfte des Auslandsgeschäftes der sächsischen Industrie.” Schreiben Sachsens Statistiker.
Und das allein im ersten halben Jahr 2015. Vielleicht hat auch der “schwache” Euro ein bisschen geholfen. Aber der Zuwachs bedeutet auch: Sachsens Wirtschaft strebt auf ein neues Rekordjahr hin – wenn nicht im zweiten Halbjahr alles wieder anders kommt. Aber danach sieht es nicht wirklich aus. Vielleicht beten ja auch ein paar Politiker im stillen Kämmerlein: Während Deutschland nämlich eifrig spart bei den Staatsausgaben, geben die anderen wieder Geld aus, weil sie ihr Land nicht abwürgen wollen. Und das heißt: Man kauft auch in Sachsen ein. Ergebnis: “Die Industrie hat in den ersten sechs Monaten 2015 mit 28,9 Milliarden Euro 7,1 Prozent mehr Gesamtumsatz erbracht als ein Jahr zuvor. Im Auslandsgeschäft wurde dabei ein stärkerer Zuwachs notiert als auf dem Binnenmarkt (13,4 bzw. 3,0 Prozent).”
Man hätte es eigentlich eher umgekehrt erwartet, nachdem nun der Mindestlohn eingeführt wurde, die Beschäftigung steigt und auch ein paar höhere Lohnabschlüsse wirksam sind. Aber das ist alles noch eher wenig und reicht nur, ein paar vorsichtige Akzente zu setzen. Weniger in der Industrie. Dafür im Einzelhandel, zu dem die Landesstatiker formulieren: “Der Einzelhandel setzte im Zeitraum Januar bis Juni 2015 sowohl nominal als auch real 3,4 Prozent mehr um als ein Jahr zuvor.”
Aber man darf auch nicht ausblenden, dass Industrie in Sachsen eben doch zuerst Auto und Maschinenbau bedeutet, eine namhafte Konsumgüterindustrie aber fast völlig fehlt. Das verändert die Gewichte, macht Sachsens Industrie sehr exportabhängig. Und da scheint wieder eine Menge Geld unterwegs zu sein. Zumindest im Ausland. “Die Ausfuhr aus Sachsen erreichte im ersten Halbjahr 2015 einen Gesamtwert von 19,8 Milliarden Euro. Die Einfuhr belief sich auf 11,1 Milliarden Euro. Verglichen mit dem Vorjahreszeitraum erhöhten sich damit die Exporte um 15,0 Prozent und die Importe um 8,7 Prozent.”
Was natürlich auch bedeutet, dass die viel diskutierten Krisengebiete nicht wirklich ausschlaggebend sind für die sächsische Wirtschaft. Auch Russland und die Ukraine haben sich seit der gloriosen “Wende” wirtschaftlich marginalisiert. Die Euro-Staaten sind viel wichtiger und entfalten auf die sächsische Exportbilanz eine viel stärkere Wirkung, wenn sich dort das Investitionsgeschehen wieder ein wenig berappelt.
Und da das gleichzeitig den Dienstleistungssektor in Sachsen mitzieht, ist das Ergebnis ein weiterer Beschäftigungsaufbau. Oder mal so formuliert: Die Wirtschaftsstruktur in Sachsen (und so am Rande wohl auch Mitteldeutschland) setzt sich durch, egal was die ganzen Wirtschaftsinstitute schwatzen, wenn der Börsentag lang ist. Irgendwann kehrt das ganze “gierige” Geld (gern auch “die Investoren” oder “die Anleger”) zurück in die stabileren Märkte des Westens. Und dann werden doch wieder ein paar Investitionen getätigt, die vielleicht keine chinesischen 8 Prozent bringen, aber am Ende zumindest nicht mit Totalverlust enden.
Vielleicht lernen ja diese Leute auch dazu.
Und wenn der Laden flutscht … sind die neoliberalen Schöngeister noch immer nicht zufrieden. Dazu sind sie zu vernarrt in den Traum vom “Wachstum”. Wie schrieb doch das IWH Halle jetzt so poetisch zur aktuellen Wirtschaftslage in der Bundesrepublik? – “Derweil befindet sich die deutsche Wirtschaft in einem verhaltenen Aufschwung. Die Auslastung der gesamtwirtschaftlichen Produktionskapazitäten hat im Frühjahr zugenommen und dürfte nun in etwa normal sein. Die Erwerbstätigkeit ist weiter gestiegen, wenn auch seit Mitte vergangenen Jahres etwas langsamer als im Durchschnitt der Zeit seit Überwindung der Rezession 2008/2009.”
Was keine chinesischen Wachstumsraten von 8 Prozent hat, ist nur “verhalten”. Eine Wachstumsrate von 1,8 Prozent? In einer ausgewachsenen Industrienation wie Deutschland? Bei einer “normalen” Auslastung der Produktionskapazitäten?
Das ist sozusagen die poetische Seite der neoliberalen Einseitigkeit. An die leider auch die Sozialdemokraten mittlerweile glauben – oder öffentlich so tun, als ob. Was ihnen aber niemand mehr abnimmt. Wie es Münchau so deutlich beschreibt: “Der Grund ist der gleiche wie der bei der SPD. Der kardinale politische Fehler der Sozialdemokraten und anderer linker Parteien in Europa ist die Akzeptanz einer neoliberalen Wirtschaftsdoktrin. Ich will an dieser Stelle nicht inhaltliche Argumente für oder gegen diese Doktrin diskutieren. Mir geht es hier um die neoliberale Politik, die zu einem Verfall der Reallöhne beigetragen hat.”
Das hilft auch beim Export. Die Frage ist aber immer: Wer bezahlt dafür? Und womit?
Was übrigens nicht nur die Südeuropäer betrifft, sondern auch die Sachsen, von denen viele seit dem 1. Januar erstmals erleben, wie ein einigermaßen ordentlicher Stundenlohn aussehen kann. Das Problem am Neoliberalismus ist seine billige Primitivität, die die komplexen Verflechtungen von Wirtschaft, Gesellschaft, Volkswirtschaft nicht mehr erfassen kann, weil Staaten und Gesellschaften nun einmal keine Konzerne sind und ihre Aufgaben nicht einfach mal nach China auslagern können.
Aber die Rebellion gegen die Einseitigkeit auf den Wirtschaftslehrstühlen hat ja zumindest schon mal vorsichtig begonnen.
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