Mitteldeutschland? Zumindest in den Köpfen der Wirtschaftsakteure im Raum Leipzig und Halle ist das Wort verankert. Seit einiger Zeit erstellen sie auch gemeinsame, grenzüberschreitende Konjunkturberichte. So auch diese Tage wieder geschehen. Und wenn man vom Einbruch im Frühjahr 2009 absieht, ist die Stimmung in der Region seit Jahren ungebrochen gut. Und zwar seit dem Herbst 2005. An den Herbst erinnert sich so Mancher.
In der vorgezogenen Bundestagswahl erlebte Gerhard Schröder seine Abwahl – und das, obwohl die Wirtschaft der Bundesrepublik nach der Krise von 2001 endlich wieder anzog. Das nutzte ihm nix. Aber dafür kam die Wirtschaft auch im Raum Halle/Leipzig endlich aus dem Tal der Tränen. Und hätte es die Finanzkrise und den Einbruch der Lage ab Herbst 2007 nicht gegeben, dann würden die Wirtschaftskammern mittlerweile auf sieben robuste Jahre zurückblicken können.
Mal ganz abgesehen davon, dass die Finanzkrise sich ja in eine schwelende Staatsschuldenkrise verwandelt hat, die die Europäische Gemeinschaft bis heute lähmt. Griechenland ist dafür nur ein Symptom – und möglicherweise der Beginn einer Talfahrt, von der die Verhandlungsführer der Troika wohl nicht einmal ahnen, wie schnell und schwer so ein “Grexit” die EU wirtschaftlich beuteln wird.
Deswegen sollte man sich die Zahlen vielleicht sogar einrahmen, die die Wirtschaftskammern von Leipzig und Halle-Dessau am Donnerstag geliefert haben – mitsamt der kleinen Warnung, was das Bauchgefühl der befragten Unternehmer betrifft: “Die Betriebe im Handwerk sind mit großem Abstand am optimistischsten. Am skeptischsten beurteilen aktuell der Handel und das Verkehrsgewerbe ihre Zukunftsaussichten. In der Industrie sind die Erwartungen der Unternehmen zurückhaltender als vor einem Jahr, bleiben per Saldo aber weiter zuversichtlich. Die Exportaussichten haben sich gegenüber dem Herbst 2014 von damals 7 auf aktuell 14 Punkte etwas erholt, bleiben aber noch deutlich hinter dem hohen Vorjahresstand (23 Punkte) zurück.”
Export läuft noch irgendwie, Fachkräfte fehlen immer mehr
Nur ein Bauchgefühl? Die weitere Entwicklung wird es zeigen.
Ganz abgesehen davon, dass der Export immer nur ein Teil der ganzen Geschichte ist und die Industriebetriebe in der Region 2014 mit 41,185 Milliarden Euro einen neuen Rekordumsatz geschafft haben. Aber der Fokus auf die Industrie darf nicht darüber hinweg täuschen, dass der größte Teil der mitteldeutschen Wirtschaft Dienstleistung ist. Was dann auch zur Überlagerung verschiedener Effekte führt.
Der eine ist der zunehmende Fachkräftemangel.
“Ausbildungsbetriebe litten immer stärker unter fehlendem Nachwuchs. Die Zukunft der Unternehmen hänge davon ab, in welchem Maße es gelingt, konsequent gegenzusteuern. Mitteldeutschland brauche ein ausgewogenes Verhältnis von Hochschul- und Berufsausbildung”, formulieren die Kammern eine Forderung, die aus den zunehmenden Problemen bei der Personalgewinnung resultieren. “Dabei werde auch künftig für die große Mehrzahl der Tätigkeiten eine praxisbezogene und qualifizierte Berufsausbildung im dualen System erforderlich sein. Deshalb müssten die mitteldeutschen Länder nicht zuletzt auch die Berufsorientierung an allen Schulformen wirkungsvoller auf die duale Ausbildung ausrichten.”
Wie sehr der Arbeitsmarkt sich entleert, zeigt der deutliche Rückgang der Arbeitslosenzahl in der Region von 149.981 im Jahr 2010 auf 118.881 im Jahr 2014. Das sieht noch wie ein Puffer aus. Aber die monatlichen Berichte der Arbeitsagenturen zeigen mittlerweile recht deutlich, dass die konjunkturelle Entwicklung an den Menschen mit Vermittlungshemmnissen fast spurlos vorbei geht. Im selben Zeitraum ist die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten von 746.507 auf 791.311 gestiegen. Die Wirtschaft hat also eine Menge neuer Arbeitsplätze geschaffen – wobei über die Hälfte im Dienstleistungssektor entstand.
Trotzdem ist dort im Frühjahr 2015 ein gewisses Jammern zu vernehmen, das sich in zwei völlig divergierenden Aussagen bündelt.
Mindestlohn ist eindeutig nicht das Problem aller Unternehmen
“Die Einführung des gesetzlichen Mindestlohns mit seinen bürokratischen Aufzeichnungspflichten sowie die Rente mit 63 Jahren hätten das Arbeitskräfteangebot weiter eingeschränkt und die Arbeitskosten in die Höhe getrieben”, mahnt eine Formel, die die Kammern aus der vorliegenden Umfrage herausdestilliert haben. “Gerade für geringfügige und gering qualifizierte Beschäftigung verschlechterten sich die Bedingungen deutlich. Weitere geplante Gesetzesänderungen wie zum Beispiel bei der Arbeitnehmerüberlassung und bei Werkverträgen oder die Neuregelung der Arbeitsstättenverordnung müssten daher unterbleiben.”
Aber die andere Seite ist: Während einige Branchen darüber jammern, dass sie nun höhere Lohnkosten haben, stellen andere weiterhin fleißig ein. Die Arbeitskräfte wandern also einfach ab in andere Branchen der Region. Denn am Ende zählt nun einmal das Geld in der Börse. Und das zeigt sich auch in der Gesamteinschätzung der Unternehmen, die auch nach ihrer Personalpolitik gefragt wurden: “Etwas günstiger als noch vor einem Jahr sind die Beschäftigungsperspektiven in der mitteldeutschen Wirtschaft. Trotz Schwierigkeiten im Bereich geringfügiger und geringqualifizierter Beschäftigung, verursacht durch die Einführung des gesetzlichen Mindestlohns, bleiben die Personalplanungen der Unternehmen insgesamt optimistisch.”
Man will also weiter Personal einstellen – nur für Niedrigqualifizierte verschlechtern sich die Bedingungen zusehends.
Der Appell an die Schulen müsste also ganz anders lauten. Es geht nicht nur um mehr Berufspraxis, sondern auch um das Verhindern, dass immer noch jedes Jahr 10 Prozent der Schüler einfach keinen qualifizierten Abschluss schaffen. Die moderne Wirtschaft ist nun einmal wesentlich anspruchsvoller als noch vor 40 oder 50 Jahren. Selbst Handwerksbetriebe kommen heute ohne hochkomplexe Computertechnik kaum noch aus.
Binnennachfrage hat angezogen
Insofern ist die Forderung nach einem leistungsstarken und flächendeckenden Breitbandnetz wesentlich brisanter: “Für die meisten Betriebe sei heute die Anbindung an ein schnelles und leistungsfähiges Internet unabdingbar. Jede Behinderung der digitalen Kommunikation sei ein Wettbewerbsnachteil. Deshalb müsse das Tempo bei der Versorgung aller Regionen in Mitteldeutschland mit einem leistungsfähigen Breitbandnetz stark beschleunigt werden.”
Und während die Industrie zunehmend skeptisch auf die Entwicklung ihrer Auslandsmärkte schaut, flankiert der Mindestlohn augenscheinlich einen sichtbaren Aufschwung im Binnenmarkt, von dem natürlich jene Branchen profitieren, die ihre Umsätze in der Region selbst machen: Handwerk, Dienstleistung und Bau. Was logisch ist: Wenn die Leute in Lohn und Brot sind und mehr Geld zum Ausgeben haben, dann gibt es mehr Aufträge an Dienstleister und Handwerker. Die Steuereinnahmen steigen ebenfalls, und wenn dann noch – wie seit 2010 sichtbar – die Bevölkerungszahl wieder steigt, müssen auch die Kommunen wieder mehr investieren.
Was dann im Bericht auch zu einer Aussage führt, die das Gejammer über den Mindestlohn komplett konterkariert: “Dank der aktuellen Arbeitsmarktentwicklung
und steigender Reallöhne ist die Ausgabenbereitschaft der Verbraucher weiterhin hoch. Darüber hinaus profitieren die handwerklichen Zulieferer von der Belebung der Exporte. Beim Blick auf die künftige Geschäftslage zeigt sich, dass die Handwerksbetriebe optimistisch sind. Die Erwartungen steigen von einem hohen Wert (+34 im Frühjahr 2014) um weitere 10 auf +44 Punkte. Sofern die Fachkräftesituation sich nicht weiter verschärft, lassen die Personalplanungen einen Beschäftigungszuwachs erwarten.”
Das eigentliche Problem ist also eindeutig nicht der Mindestlohn, sondern die Tatsache, dass man immer öfter Fachkräfte sucht und sie nicht findet. Und dass die beteiligten Akteure – allen voran die beiden Bundesländer – es hier einfach nicht schaffen, die nötigen Weichen zu stellen.
Ansonsten ist die Konjunkturentwicklung im Herzen Mitteldeutschlands recht robust. Der Fachkräftemangel macht sich auch am anderen Ende der Unternehmensentwicklung bemerkbar: Viele Unternehmen suchen mittlerweile händeringend nach einem Nachfolger für den Chef.
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