Wie erfindet man eine neue Gesellschaft? Denn nichts Geringeres hat sich ja die Vierte Internationale Degrowth-Konferenz für ökologische Nachhaltigkeit und soziale Gerechtigkeit zum Ziel gesetzt, die in dieser Woche in Leipzig tagte. Rund 3.000 Menschen haben bis Samstag, 6. September, in Leipzig Alternativen zum Wachstumsparadigma diskutiert.

Zur Eröffnungsveranstaltung am Dienstag, 2. September, sprachen der ecuadorianische Wirtschaftswissenschaftler und Politiker Alberto Acosta und die bekannte Globalisierungskritikerin Naomi Klein im größten Saal der Universität, der bis auf den letzten Platz gefüllt war. Sie betonten, dass eine Abkehr vom Wachstum auch eine Abkehr vom Kapitalismus bedeutet. Womit sie natürlich die Systemfrage stellten. Aber ist das nun eine linke Frage, wie die Mitglieder des “communistischen Labor translib” aus Lindenau in einem L-IZ-Interview glauben – und damit von vielen Seiten Kritik ernten? Denn die Sorgen, die mittlerweile eben nicht nur Aktivisten und Künstler, sondern auch viele Wissenschaftler umtreiben, sind nur zu berechtigt. Die Ressourcen der Erde sind endlich.

Der Kampf um wertvolle Rohstoffe hat mittlerweile weite Teile der Erde in dauerhafte Bürgerkriege und kriegerische Konfrontationen gestützt. Auch wenn das in den Nachrichten meist mit religiösen oder ideologischen Motiven übertüncht wird. Die Erde ist mit wirtschaftlichen Dauerkonflikten überzogen. Fast monatlich entstehen neue – und auch die westliche Staatengemeinschaft hat bislang kein Instrumentarium entwickelt, der selbstgestellten Falle zu entkommen. Wie schafft man eine Welt, in der alle an den vorhandenen und beschränkten Ressourcen partizipieren, in der Wohlstand so verteilt ist, dass nicht die blanke Note ganze Völker zur Flucht treibt?

Eine Ursache für die zunehmenden Konflikte auch zwischen der so genannten westlichen Welt und der neuen Konkurrenz in Ost und Süd ist nicht das Wirtschaftswachstum an sich.

Auch wenn es die Organisatoren der Leipziger Degrowth-Konferenz so ähnlich formulieren: “Einigkeit besteht unter den Konferenzteilnehmenden darin, dass eine Gesellschaft nötig ist, die nicht länger unter dem Diktat des Wirtschaftswachstums steht. Wie ein gutes Leben für alle Menschen jedoch aussieht, darüber wird lebhaft diskutiert. Sicherlich war das ein Grund für den großen Andrang beim Vortrag von Prof. Dr. Hartmut Rosa. Der Soziologe und Zeitforscher gehört zu den bekanntesten Rednern auf der Konferenz. Er begeisterte sein Publikum, als er über sein Konzept der ‘Resonanz’ sprach, welches er als zentral für ein gutes Leben sieht.”

“Es geht aber nicht nur darum, über das gute Leben zu sprechen, sondern auch strategisch zu überlegen, was politisch dafür nötig ist”, so Christopher Laumanns, Pressesprecher der Konferenz. Das sei eine der Fragen, die am Samstag im “Open Space” diskutiert wurde, dem Ort der Konferenz, wo die Teilnehmenden selbst die Themen bestimmen.

Neben den großen strategischen Fragen ging es auf der Konferenz auch um die Alternativen, die bereits existieren. In den praktischen Workshops konnten Teilnehmende Bauwägen begehen, Saatgutkisten bauen und aus Abfällen Brennstoffe herstellen. Außerdem waren Unternehmen anwesend, die bereits sozial, ökologisch und demokratisch wirtschaften. Das alles sind erst einmal Mauerblümchen, Randerscheinungen einer Gesellschaft, die sich in den letzten 30 Jahren massiv beschleunigt hat und in dieser Beschleunigung auch das soziale Gefüge gefährdet – oder gar durch diverse Reformen unterminiert, welche Gesellschaften als Verfügungsmasse des wirtschaftlichen Wachstums begreifen.

Unter dem Zeichen stand auch die Schrödersche “Agenda 2010”. Steht sie bis heute, ohne dass die involvierten Parteien auch nur begonnen haben, über Sinn und Folgen dieser Reform nachzudenken. Aber aus dem Auge verlieren darf man auch nicht all die Gesetze und Verträge, die vor allem auf eine Beschleunigung der wirtschaftlichen Abläufe setzen – bis hin zum zwischen der EU und den USA verhandelten TTIP-Abkommen. Womit man bei Themen wie Macht und politischer Einfluss wäre. Denn wenn eine Gesellschaft ihre Grundlagen derart auf Wirtschaftswachstum und Konkurrenzdenken umdefiniert, steht zwangsläufig die Frage: Wer hat die Macht, gesellschaftlich relevante Entscheidungen zu treffen und zu forcieren?Bislang funktionieren Experimente eines alternativen Wirtschaftens nur in geduldeten Nischen – auch in Leipzig. Das betrifft das Leben im Bauwagen genauso wie die Nachbarschaftsgärten oder diverse Wohnexperimente. Und es ist keineswegs so, dass die Bürger scharenweise die Zuflucht in alternativen Lebensentwürfen suchen, wenn sie ihren Wohlstand und Lebensstandard bedroht fühlen. Das Gegenteil stimmt wohl, was am Fall AfD nicht einmal bewiesen werden muss. Der von der beschleunigten Veränderung der Welt in Panik versetze Bürger neigt zur Burgmentalität, zu Abwehr und Ausgrenzung.

Und da er Teil der Beschleunigung ist, begreift er sich selbst nicht als Opfer der auf forcierte Konkurrenz bedachten Entwicklung, bei der – auch über nur allzu hilfsbereite Politik – eine Bremse und ein Regelventil nach dem anderen ausgebaut werden. Es sind ja nicht die Vertreter einer Postwachstumsgesellschaft, die gesellschaftlich und politisch das Sagen haben, sondern die Vertreter einer immer weiter um sich greifenden Liberalisierung. Die freilich nichts mit den ursprünglichen Freiheitsidealen des Bürgertums zu tun hat, sondern mit der Marktbereinigung für immer weniger immer finanzkräftigere internationale Konzerne.

Die Gesellschaften werden zu Märkten umdefiniert, Regeln, Gesetze und Schutzstandards als Handelshemmnisse und “Bürokratie” behandelt. Exemplarisch für diese komplette Umdeutung des Begriffs Freiheit war und ist die FDP. Und die Diskussion dort hat über die eigentlichen Grundwerte noch nicht einmal begonnen. Man steckt in der eigenen lambsdorffschen Denkfalle und kann das Primat der Wirtschaftsinteressen nicht von einer fast romantisierten bürgerlichen Freiheit trennen.

Nicht weniger romantisch sind die Revolutionsbrigaden vom kommunistischen Hochufer. Aber es wird keine Revolution geben. Jedenfalls nicht so eine, wie sie sich noch Karl Marx ausmalte. Das hat der Philosoph Byung-Chul Han in letzter Zeit sehr klug analysiert. Auch in Zeitungsbeiträgen wie am 2. September in der “Süddeutschen”:

“Warum heute keine Revolution möglich ist”: www.sueddeutsche.de/politik/neoliberales-herrschaftssystem-warum-heute-keine-revolution-moeglich-ist-1.2110256

Aber um das zu sehen, muss man die neoliberale Wirtschaftstheorie auch als das verstehen, was sie ist: eine Ideologie des reinen Marktes. Und des fundamentalistischen Glaubens an die unsichtbare Macht des Marktes. Der alles zum Guten und Besten richtet. Zumindest für die Sieger in diesem Kampf um die komplette Marktmacht.

Die in diesem Fall auch eine Meinungsmacht ist, denn diese Art neoliberales Denken dominiert in den deutschen Wirtschaftsinstituten genauso wie in der universitären Wirtschaftslehre. Dagegen formiert sich so langsam eine Gegenbewegung junger Ökonomen, die die einseitige Lehre in Frage stellen und auch alternative Wirtschaftstheorien einfordern. Denn wenn es keine Alternativen gibt, gibt es ja scheinbar nur diesen einen Weg ins Chaos des alles dominierenden Marktes.

Der auch im Politischen seine Grenzen nicht findet und – siehe Byung-Chul Han – bis ins Private greift und den einzelnen Menschen zum selbstausbeutenden Unternehmer macht, der auch noch das Privateste preis gibt und verkauft, um ja nicht aus der Community auszuscheiden, die ihn digital und fiktiv, in eine “große Gemeinschaft” integriert.

So gesehen ist eine Degrowth-Konferenz bislang immer erst ein Sammlungs-Kongress für alternative Ansätze, die sich jedes Mal mehr vornimmt, als sie bewältigen kann.

Am Samstag endete die Konferenz mit einer Podiumsdiskussion zur Frage, wie es weitergehen soll mit der Degrowth-Bewegung.

“Nächstes Jahr wird das Thema Klimawandel wieder stärker in die Aufmerksamkeit rücken”, erklärt Christopher Laumanns. “Das Klima ist nur zu retten, wenn wir uns vom Wachstumspfad verabschieden. Ich bin gespannt zu sehen, ob die Bewegung es schafft, diese Erkenntnis in die breite Öffentlichkeit zu tragen.”

Womit er auch die ganze Illusion von Degrowth auf den Punkt bringt. Denn die Erkenntnis ist in der “breiteren Öffentlichkeit” längst zu Hause. Und sie macht immer mehr Menschen Angst. Doch ihnen fehlen die wirklich greifbaren Antworten, wie man umsteuern kann. Und zwar nicht auf der Brache in einem abgelegenen Stadtteil, sondern mit der ganzen Stadt. Eine Frage, sie sich sogar Leipzigs Oberbürgermeister Burkhard Jung mal gestellt hat, 2007, als in Leipzig die “Leipzig-Charta” aus der Taufe gehoben wurde. Doch immer dann, wenn es ums Eingemachte ging, ist er ohne viel Grübeln eingeschwenkt auf den Weg des “wirtschaftlichen Wachstums”. Auch weil die begleitenden Arbeiten zu einem alternativen Weg fehlen. Da greift dann auch der letzte Bürgermeister nach dem kleinsten Strohhalm, den “Standort zu stärken”. Egal, was es tatsächlich kostet.

So lange aber auf dieser Ebene nicht gedacht und diskutiert wird, ändern auch Degrowth-Konferenzen nichts am Zustand der Welt.

Weitere Informationen
http://leipzig.degrowth.org

Zur Videosammlung “Degrowth 2014” auf Youtube

www.youtube.com/results?lclk=month&filters=month&search_query=degrowth&search_sort=video_date_uploaded

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