Von der Stilidee der Sozialen Marktwirtschaft sind wir heute weit entfernt, sagt der Leipziger Ökonom Dr. Sebastian Thieme über den Zustand seiner Wissenschaftsdisziplin. Zugleich verweist er im zweiten Teil des L-IZ-Interviews auf alternative Denkanstöße, die die Ökonomen liefern könnten. Darunter finden sich auch Leipziger Ansätze.
Der Diplom-Volkswirt Sebastian Thieme ist Jahrgang 1978. Einer Berufsausbildung in Leipzig folgte das Studium der Volkswirtschaftslehre an der hiesigen Universität. Thieme promovierte an der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Leipzig über “Das Subsistenzrecht” und ist Fellow der Denkfabrik für Wirtschaftsethik “Menschliche Marktwirtschaft”. Von 2008 bis 2012 war Thieme Stipendiat der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung.
Wie stellt sich die Situation der Wirtschaftswissenschaften in Leipzig dar?
In Leipzig forscht und lehrt mit Friedrun Quaas von der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Leipzig eine renommierte Expertin für Soziale Marktwirtschaft, die sich nicht nur kritisch mit ökonomischer Theorie und Wirtschaftspolitik auseinandersetzt, sondern auch dafür sorgte, dass in Leipzig “Evolutorische Ökonomik” studiert werden kann und seit dem Wintersemester 2006/ 2007 so genannte Erwägungsseminare existieren.
Ich möchte auch das Leipziger Forschungsseminar “Politik und Wirtschaft” erwähnen, das 2010 unter dem Titel “Bubbles, Schock und Asymmetrien – Ansätze zu einer Krisenökonomik” einen Band zu den Wirtschaftskrisen publizierte. Insofern können Sie durchaus ein kritisches Hinterfragen der Ökonomik finden.
Wie fällt die Resonanz auf diese Bemühungen aus?
Andererseits lehrt mich meine Erfahrung in Leipzig, dass die beschriebenen Aktivitäten kaum zur Kenntnis genommen oder sogar ignoriert werden, offenbar in der Hoffnung, sie totschweigen zu können. Zu diesem Bild passt auch, dass studentische Initiativen, die sich um mehr Pluralität in der ökonomischen Lehre bemühen, regelmäßig abgewürgt werden.
Deshalb bin ich weiterhin sehr skeptisch, dass ein Umdenken in der Ökonomik auch nachhaltig einsetzt, wenn sich an den akademischen Strukturen nichts ändert. Tatsächlich hat sich seit Krisenbeginn 2008 nicht wirklich viel bewegt – trotz aller Bekenntnisse zur Offenheit und zu Änderungen in der Ökonomik. Es blieben Lippenbekenntnisse.
Studieren Sie einfach mal die aktuellen Stellenanzeigen im Bereich Ökonomik. Von Pluralität oder gar Veränderung ist dort wenig zu spüren. Studentische Initiativen, sofern Studierende überhaupt den Mut dazu aufbringen, sind nach wie vor auf sich allein gestellt.Welche Vorstellungen verbinden Sie mit dem Begriff der “menschlichen Marktwirtschaft”, für das die von Ihnen vertretene “Denkfabrik für Wirtschaftsethik” steht?
Das MeM sieht sich in der Tradition der Integrativen Wirtschaftsethik von Peter Ulrich, und das bedeutet: Marktwirtschaft ist kein Selbstzweck, sie ist in die Gesellschaft einzubetten und sie soll sozial-ökologischen Zielen, der Fairness und dem guten Leben aller dienen. Das muss natürlich immer wieder aufs Neue im gesellschaftlichen Dialog erörtert werden; und zwar ohne (!) dass bestimmte Gruppen – wie Erwerbslose – ausgegrenzt werden.
In diesen Aspekten können Sie auch eine Nähe zur offenen Stilidee der Sozialen Marktwirtschaft sehen, wie sie einst von Alfred Müller-Armack erdacht wurde. Davon sind wir heute aber weit entfernt.
Welche gesellschaftspolitischen Anstöße könnte denn wirtschaftswissenschaftliches Denken jenseits des von Ihnen kritisierten “Kernparadigmas” bieten?
Das kommt ganz darauf an, welches Denken Sie da zu Grunde legen. Evolutionsökonomen werden vielleicht ganz andere staatliche Investitionskonzepte präsentieren, die im Hochschulbereich zum Beispiel nicht – wie die Exzellenzinitiativen des Bundes – die “Spitzen” fördern, sondern eher die Förderung in der Breite favorisieren – um Innovationen zu begünstigen.
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Wirtschaftsethiker werden Sie daran erinnern, die Gewinnmaximierung nicht als absolutes Ziel zu setzen, die Zumutbarkeit von sozialpolitischen Empfehlungen zu erörtern, Fragen der Fairness zu stellen und ökonomische Annahmen auf ihre verdeckten Wertungen hin zu analysieren. Und von Vertretern einer Postwachstumsgesellschaft werden Sie sicher auch Vorschläge erwarten können, die nicht auf dem Zwang zum Wirtschaftswachstum basieren.
Es gibt also viele alternative Ideen jenseits der vorherrschenden Lehre, die ihren Eingang in den gesellschaftlichen Diskurs finden, kontrovers diskutiert und dadurch für Anstöße sorgen können. Deshalb fordert das Memorandum gerade die paradigmatische Öffnung der Wirtschaftswissenschaften. Ohne diese Öffnung ist ein gesellschaftlicher Diskurs über die alternativen ökonomischen Ideen und Ansätze nur schwer möglich.
www.mem-wirtschaftsethik.de/memorandum-2012/
Mehr zur evolutorischen Ökonomik: http://evoeco.forschungsseminar.de
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