Das nächste Märchen bitte. Nennen wir es Fachkräftemangel. Ein Wort, das auch die sächsische Landesregierung so gern beschwört wie diverse Industrieverbände und Wirtschaftsvereinigungen. Zuweilen hat man das Gefühl, Sachsen könne nur noch funktionieren, wenn man die Ingenieure aus Moldawien in ganzen Zügen importierte. Aber wie so oft, sind auch hier globale Behauptungen falsch.
Dieser Frage gehen gleich zwei Beiträge im neuen Quartalsbericht nach. Ganz explizit beschäftigen sich Michaela Fuchs und Antje Weyh mit der Frage “Gibt es einen Fachkräftemangel in Leipzig?” – Eine berechtigte Frage, denn die Arbeitslosigkeit ist mit über 30.000 nach wie vor hoch, die Einkommen sind nicht explodiert. Es wäre eigentlich seltsam, auf so einem Markt keine Fachkräfte mehr zu finden. Oder sie zu binden. Noch arbeiten über 43.000 Leipzigerinnen und Leipziger in prekären Beschäftigungsverhältnissen, über 11.000 sind als Leiharbeiter tätig – und das auch in der auf Fachkräfte angewiesenen Automobilbranche.
Und auch Wolfgang Topf, Präsident der IHK, hat darauf hingewiesen, dass die Löhne steigen werden – wenn die Unternehmen tatsächlich Probleme bekommen, ihren Fachkräftebedarf zu sichern. Das wird hart für viele Unternehmen. Das ist die makroökonomische Sicht. Zu der Fuchs und Weyh schlicht konstatieren können: “Aus makroökonomischer Sicht gilt der Lohn als zentraler Ausgleichsmechanismus zwischen Angebot und Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt. In den sächsischen Kreisen deutet er auf keinen Engpass hin.”
Und nicht einmal die Lohnentwicklung deutet darauf hin, dass so ein Engpass da wäre. Mit einem Medianentgelt der Vollzeitbeschäftigten von 1.955 Euro liegt Sachsen weiterhin fast am Ende der bundesdeutschen Skala. Nur in Thüringen und Mecklenburg-Vorpommern liegt dieser Zentralwert noch niedriger. Der bundesdeutsche Median lag 2010 übrigens bei 2.702 Euro.
Und dazu kommt: Der sächsische Entgeltmedian der Vollzeitbeschäftigten stieg von 2000 bis 2010 nur um 11,6 Prozent – der bundesdeutsche aber um 14,2 Prozent. Eine Zahl, die darauf hindeutet, dass der Fachkräftemangel zuerst ein Problem westdeutscher Unternehmen ist. Tatsächlich mussten die sächsischen Vollzeitbeschäftigten von 2000 bis 2010 tatsächlich einen realen Einkommensverlust hinnehmen, denn die Verbraucherpreise stiegen deutlich stärker.
Aber die unterschiedlichen Anstiege in den sächsischen Kreisen deuten darauf hin, dass sich punktuell doch Engpässe auf dem Arbeitsmarkt zeigen. In Dresden stieg der Median um 20,8 Prozent auf immerhin 2.450 Euro. Leipzig nahm in etwa eine Entwicklung wie der Erzgebirgskreis und Mittelsachsen – der Median stieg hier noch um 13 Prozent auf 2.291 Euro.Die deutliche Einschränkung: Es sind nur die Vollzeitbeschäftigten erfasst. Tatsächlich wird sich das verringerte Angebot an verfügbaren Fachkräften wohl viel früher in anderen Zahlen niederschlagen – nämlich im Rückgang der Zeitarbeit, der Mini- und Midi-Jobs und in der Zunahme der sozialversicherungspflichtigen Vollzeitbeschäftigung. Ein Thema, mit dem sich Stefan Arent und Wolfgang Nagl vom ifo Institut Dresden beschäftigt haben. Und auch sie sehen noch keine Alarmzeichen und auch keinen Grund für Jubel-Arien.
Die Arbeitslosigkeit in Sachsen geht seit 2008 rapide zurück, stärker noch als im bundesdeutschen Durchschnitt. Aber der Rückgang spiegelt sich nicht in der entsprechenden Zunahme der Beschäftigung.
“Der Hauptgrund für den Rückgang der Arbeitslosigkeit ist wahrscheinlich eher die Bevölkerungsentwicklung in Sachsen”, schreiben die beiden. Und sie bestätigen eine Analyse, die die Entwicklung der Leipziger Arbeitslosigkeit in den letzten Monaten immer wieder vermuten ließ: “Ein Indiz für die zunehmende Alterung der Erwerbsbevölkerung zeigt sich in den Abgängen aus Arbeitslosigkeit. So wechselten im Oktober 2011 in Sachsen mehr Personen aus der Arbeitslosigkeit in die Nicht-Erwerbstätigkeit (ca. 14.000) als in den ersten Arbeitsmarkt (ca. 12.000).”
So schmilzt das Erwerbspersonenpotenzial in Sachsen – und zwar künftig noch stärker als in den letzten Jahren. Und da kommt man zum eigentlichen Knackpunkt. Denn damit kommt es zu einem Bruch in der Personalentwicklung vieler hochtechnisierter Unternehmen, die in den letzten Jahren kaum Neueinstellungen vorgenommen haben und nun eines nach dem anderen feststellen, dass ihre tragenden Fachkräfte allesamt 55 Jahre und älter werden. Sie müssen nicht nur einen guten Mann ersetzen, den sie nach 1990 im Unternehmen haben halten können, sondern oft eine komplette Belegschaft. Und das betrifft statistisch vor allem Fertigungsingenieure, Maschinenbauer, Elektroingenieure. Daher kommt das Problem.
Und es verschärft sich gerade in den Landkreisen. Denn die jungen Menschen im erwerbsfähigen Alter wandern ab – Richtung Dresden und Leipzig vor allem. Aber auch diese beiden Städte haben ein Problem – nämlich Hochschulabsolventen an sich zu binden. Denn die haben, da ja der Westen noch viel hungriger nach Fachkräften ist, die Wahl und entscheiden sich überproportional für die besser dotierten Stellen in westdeutschen Unternehmen.
Der Fachkräftehunger West wird zum Nachwuchsproblem Ost.
Der Mangel selbst – so Fuchs und Weyh – ist erst in einigen wenigen Berufsfeldern sichtbar. Aber dazu gehören vor allem auch sozialpflegerische Berufe (mit Erzieherinnen, Altenpflegern usw.), Ärzte und Apotheker. Jene Berufe also, die an beiden Enden der Altersskala dringend gebraucht werden. Genau da, wo demografische Veränderungen aufgefangen werden müssen. Womit man wieder bei der desolaten Demografie-Politik der sächsischen Landesregierung wäre.
Der Bericht kann im Internet unter statistik.leipzig.de unter Veröffentlichungen kostenfrei heruntergeladen oder für sieben Euro (bei Versand zuzüglich Versandkosten) als Broschüre beim Amt für Statistik und Wahlen erworben werden.
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