Es könnte, so der Wunsch von NGG-Gewerkschafter Jörg Most (Leipzig, Halle, Dessau) in Erfüllung geht, ein Flächenbrand für die Oetker-Gruppe (u.a. Radeberger) in ihrem neuen Logistikbereich werden. Seit bekannt wurde, dass sich durch die Übernahme des deutschlandweiten Liefer-Konkurrenten „Flaschenpost“ alle eigenen Mitarbeiter erneut und offenbar zu schlechteren Konditionen auf ihre alten Jobs bewerben sollen, rumort es mächtig bei der Oetker-Marke „Durstexpress“. Die erste Reaktion in Leipzig darauf ist die heute eingeleitete Gründung eines Betriebsrates. Und der Aufruf, dies auch an anderen Standorten von „Durstexpress“ zu tun.
Um 14:15 Uhr versammelten sich am heutigen 23. Januar 2021 die ersten „Durstexpress“-Mitarbeiter, Gewerkschafter von der Freien Arbeiterinnen- und Arbeiter-Union (FAU) , der Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) und Vertreter der Kommunal-, Landes- und Bundespolitik an der Zschortauer Straße 105.Darunter Sören Pellmann (MdB, Die Linke), Marco Böhme (MdL, Die Linke), Holger Mann (MdL, SPD), die Stadträte Jürgen Kasek (Grüne), Marco Götze (Linke), Christoher Zenker (SPD) und Thomas „Kuno“ Kumbernuß (Die PARTEI) und neben Irena-Rudolph Kokot (SPD) sogar ein CDU-Vertreter, die ihrem Unmut Luft verschafften.
Drinnen, von der Firmenleitung gut bewacht und von der Presse abgeschirmt von einem „militärisch ausgebildetem“ Securitydienst namens „MASS“ aus Brandenburg, die Mitarbeiterversammlung bei „Durstexpress“, draußen, vor dem Tor, massive Kritik an der Art der Fusion zwischen zwei Firmen aus der Logistikbranche.
Kritik bis in die CDU hinein
Sören Pellmann stellte dabei gegenüber LZ sogar in den Raum, dass sich Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) um den Fall kümmern müsse – immerhin gehe es hier um ein deutschlandweit agierendes Unternehmen und bei Oetker eine eher internationale Marke (siehe Statements im Video).
Bereits im Vorfeld der heutigen Versammlung hatte sogar der Arbeitnehmerflügel der CDU (CDA) Alarm geschlagen. So würde „die Expansion der Oetker-Gruppe ausschließlich auf dem Rücken der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ausgetragen, dies will der Sozialflügel der CDU so nicht hinnehmen“, hieß es aus der parteiinternen Vereinigung, der auch Jens Lehmann (MdB, CDU angehört).
Bereits an die neue gemeinsame Marke gerichtet, betonte Lehmann: „Flaschenpost betont gern öffentlich seine gesellschaftliche Verantwortung – jetzt muss sie diese auch gegenüber den Beschäftigten zeigen”.
Doch bislang entwickelt sich die bereits seit 2020 angelaufene Fusion zweier Liefermarken zu einem Marktführer trotz der dadurch wachsenden Stärke des neuen Unternehmens unter dem Namen „Flaschenpost“ zu einer Wackelpartie für über 500 Angestellten am Leipziger Standort.
Und nicht nur da, es ist davon auszugehen, dass auch die „Durstexpress“-Mitarbeiter in Berlin und anderswo ähnliche Ankündigungen voller Zukunftsfreude von den beiden Geschäftsführern von „Flaschenpost“ und „Durstexpress“ erhalten haben, wie die Leipziger (siehe gemeinsames Mitarbeiterschreiben, Screen).
Während darin von der gemeinsamen Arbeit bis hier und in einer farbenfrohen Zukunft gesprochen sowie der Teamgeist beschworen wird, ist es mit den Übergangsszenarien weniger blumig gestaltet.
Einkommensverluste scheinen vorprogrammiert, die Wochenarbeitszeit bei „Flaschenpost“ soll für alle „Neuen“ von „Durstexpress“ von 40 auf 26 Stunden absinken, von Einnahmeverlusten zwischen 400 und 600 Euro monatlich war heute an der Zschortauer Straße gegenüber LZ die Rede.
Migranten gezielt ausgenutzt?
Hinzu kommt, dass niemand weiß, ob sich die Praxis der Oetker-Tochter „Durstexpress“ der sogenannten „Kettenverträge“, also stets befristeter Anstellungen ohne Chance auf einen unbefristeten Vertrag fortsetzen.
Die Linke Leipzig sieht sogar eine gewisse Ausnutzung vor allem der migrantischen Mitarbeiter gegeben, wenn sie mitteilt: „Vorteilhaft für das Unternehmen stellte sich dar, dass viele lange arbeitslose Leipziger/-innen verzweifelt nach Jobs suchten oder in den letzten Jahren zahlreiche Migrant/-innen in Leipzig einen Einstieg in die Arbeitswelt schaffen wollten. Viele von letzteren, die – egal wie qualifiziert – in Deutschland stets Probleme haben, einen ihrer Qualifikation entsprechenden Job zu finden, waren froh über jede Möglichkeit einer Beschäftigung.“
Und genau dieser Umstand ermögliche es dem Unternehmen „Durstexpress“ und nun womöglich der „Flaschenpost“ bei der „Gestaltung der befristeten Kettenverträge und der Arbeitsbedingungen bisweilen bis an die Grenze des Zulässigen zu gehen. Von Mitbestimmung und Koalitionsfreiheit hält das Unternehmen wenig. Versuche einen Betriebsrat zu gründen oder gar gewerkschaftliches Engagement wurden an mehreren Standorten behindert.“
Was sagen die Mitarbeiter, Politiker und Gewerkschafter zum Verhalten von „Durstexpress“? Video: LZ
Der Betriebsrat
Das soll nun in Leipzig enden. Mit Wirkung des heutigen Tages habe man die Gründung eines ordentlichen Betriebsrates bei „Durstexpress“ eingeleitet, und die fünf Personen sowie fünf Stellvertreter gewählt, die die Gründung in etwa zwei Wochen vorbereiten sollen, so Jörg Most von der Gewerkschaft NGG. Zuvor, so „Durstexpress“-Mitarbeiter Frederik für die Gewerkschaft FAU (siehe Video), habe es Gesprächsversuche gegeben, ein sogenannter „Talking-Table“ zur Kommunikationsverbesserung zwischen den Berliner Chefs und den Mitarbeitern wurde gegründet, tagte aber nur einmal ohne weitere Ergebnisse.
Auch jetzt würde seitens der Firmenleitung bei „Durstexpress“ nicht klar kommuniziert, wie es weitergehen solle. Die erste Richtung, welche der Betriebsrat nach Gründung einschlagen könnte, ist der, welchen die Arbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmer/-innenfragen (AfA) in der SPD Sachsen andeutet. Nämlich die Art und Weise der Fusion bekämpfen.
Irena Rudolph-Kokot, Vorsitzende der sächsischen sozialdemokratischen Arbeitnehmer/-innen zum Vorgehen der Oetker-Tochter: „Es sieht danach aus, dass sich die Firma um einen sauberen Betriebsübergang nach §613a BGB mogeln möchte. Dieser steht nach meiner Ansicht den Beschäftigten zu und würde eine Übernahme zunächst für ein Jahr zu gleichen Bedingungen garantieren. Es kann nicht sein, dass hier auf dem Rücken der bei Durstexpress beschäftigten Menschen versucht wird, aktiv das Gesetz zu umgehen.“
Heißt: der Aufruf der Firmenleitung von „Durstexpress“, sich einfach bei „Flaschenpost“ zu schlechteren Bedingungen neu zu bewerben, könnte bedeuten, dass selbst die Mitarbeiter, die wieder einen Job erhalten, Einbußen hinnehmen müssten, die nicht nötig wären.
Bliebe noch der Verweis auf die Kunden beider Unternehmen, welche Rudolf-Kokot zur Solidarität mit dem sonst geschätzten Lieferservice aufruft: „Ich rufe alle Nutzer/-innen der Getränkelieferservices dazu auf, sich aktiv bei den Geschäftsleitungen der Firmen zu melden und sich für die ordentliche Übernahme einzusetzen. Dass es auch anders geht, zeigt sich an anderen Standorten in Deutschland.“
Ein Betriebsrat? Der richtige Schritt in diesem Moment. Video: LZ
Eine generelle Frage zum „Start Up – Modell“?
Wie bei allen sogenannten „neuen Modellen“ am Logistik-, Netz- und Digitalmarkt geht es auch hier der Oetkergruppe und den Investoren hinter der Flaschenpost SE darum, möglichst schnell eine marktbeherrschende Stellung „auf der letzten Meile zum Kunden“ und so einen neuen Direktvertriebsweg für Waren zu erreichen. Es gilt das Prinzip „the winner takes it all“, zweite Plätze interessieren Investoren langfristig nicht.
Anschließend folgen meist ein Börsengang oder weitere Kapitalisierungen, die auf das Modell und weniger auf sofortige Gewinne einzahlen. Dann ist für Investoren der ersten Phase Kassensturz und Gewinn angesagt. Auf solche und ähnliche Zielsetzungen deutet bereits die medial kolportierte und von der Oetker-Gruppe unbestätigte Übernahmesumme von unglaublichen 1000 Millionen Euro für einen Getränkelieferservice mit einer App und 22 Standorten hin.
Bleibt die nicht nur „Durstexpress“ oder die „Flaschenpost SE“ betreffende Frage: wo ist dann die Beteiligung für Mitarbeiter, die bis zu diesem Punkt und womöglich sogar darüber hinaus auf bessere Löhne, gute Arbeitsbedingungen mit unbefristeten Verträgen, Urlaub und Freizeit in einer Sechstagewoche verzichtet haben? Es ist kaum zu erwarten, dass ihre Investitionen an Arbeitserbringungen dann mit einer Gewinnbeteiligung honoriert werden, während sie sich womöglich jahrelang durch ein „Hire and Fire“-System durcharbeiten mussten.
Und so also auch das Risiko mittrugen.
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Es gibt 2 Kommentare
Solange wir von der herrschenden Wirtschaftsordnung abhängig sind, werden wir uns von ihr auch nicht befreien können. Unternehmen wie Dr. Oetker profitieren davon, dass es viele Menschen gibt die von solchen Jobs abhängig sind. Mit einem bedingungslosen Grundeinkommen wäre die Position der Beschäftigten gestärkt. Es würde eine Phalanx für die Kämpfe von Betriebsräten und Gewerkschaften bereitstellen. Im vorliegenden Fall könnte Dr. Oetker alias. Durstexpress uns gepflegt den Buckel runterrutschen!
Das klingt schon, als wäre ein Betriebsrat sehr nötig und habe gleich nach der Wahl schon ein ganz schönes Brett zu bohren.