Im November 2020 ploppte das Thema erstmals in den Medien auf. Am neuen persönlichen Getränkeliefermarkt tat sich Großes, das Kartellamt musste befinden, ob sich die Berliner Liefermarke „Durstexpress“ und die „Flaschenpost“ aus Münster zusammenschließen dürfen. Klang logisch, dass der hinter „Durstexpress“ stehende Player „Oetker Nahrungsmittel und Getränke Holding KG“ nach einer „schneller Roland“-Gründung von „Durstexpress“ den 2016 gestarteten Konkurrenten „Flaschenpost“ aus Münster kauft. Und aus zwei Marken eine wird, welche Flaschen per Transporter nach Hause bringt. Wenn da nicht die Methoden von „Durstexpress“ wären.
Sharin A. (Name geändert, d. Red.) weiß seit einigen Tagen nicht, was er machen soll. Gerade in Corona-Zeiten und den einhergehenden Beschränkungen für die Menschen beim Einkaufen und in der Freizeit hat er einen Job, der mindestens noch eine Weile sicher scheint. Getränke zu den Menschen nach Hause liefern, passt in die Zeit: bequem für die Besteller, sicherer gegen den Virus.Verkaufsschlager sind Bier und Wasser und der Leergutservice. Bereits im Februar ist Schluss damit, er ist noch nicht gekündigt, aber: Der Leipziger ist aufgefordert, sich bis zum 26. Januar 2021 online beim Unternehmen „Flaschenpost“ in Leipzig auf einen neuen Job zu bewerben der sein alter ist. Für 1.850 Euro brutto im Monat, praktisch Minestlohn, nach Abzug aller Sozialleistungen nur wenig über Hartz IV, räumt er im Leipziger Lager von „Durstexpress“ Kisten hin und her, belädt Transporter, fährt zu Kunden, rennt Treppen auf und ab.
Pünktlich soll er sein, ab und zu wird seine Route vom Unternehmen per GPS überwacht, wann das geschieht, weiß er nicht. Dass er keine Pausen machen sollte, hingegen schon.
Sein Arbeitsvertrag, welchen er, wie so viele Migranten unter den über 500 Angestellten bei der Leipziger Filiale der Tochterfirma der „Oetker Nahrungsmittel und Getränke Holding KG“ namens „Durstexpress“ unterschrieben hat, ist ein befristeter, ein Jahr gültig. Läuft er aus, musste er sich so oder so jedes Mal neu bewerben, wobei auch seine sechsmonatige Probezeit erneut beginnt.
Ein Neustart also, in dem ihn sein Arbeitgeber mit 24 Urlaubstagen bei einer Sechs-Tage-Woche mit zusätzlichen sechs Tagen ab dem 2. Jahr lockt.
Arbeitnehmerrechte finden sich in dem der „Leipziger Zeitung“ vorliegenden Vertrag quasi keine, dafür jede Menge Pflichten: nicht rauchen, pünktlich sein, festes Schuhwerk mitbringen, Firmenkleidung tragen und dafür Kaution zahlen, Mund halten. Und, wenn gewünscht, kostenfrei als Werbemodell zur Verfügung stehen.
Und jeden Tag Kisten, Kisten, Kisten, die sich am Abend im Rücken bemerkbar machen.
Rechtlose Verfügungsmasse
Sich in Leipzig zu beschweren, wenn etwas zu arg wird, kann er bis heute nicht. Einen Betriebsrat gibt es im Hire and Fire-System „Durstexpress“ nicht und die Personalverantwortung liegt letztlich in Berlin, bei der Durstexpress KG in der Stralauer Allee 10–11. So zumindest laut Impressum von „Durstexpress“ und vor Ort soll er sich halt Online bewerben.
Eine Kündigung aufgrund eines Verstoßes gegen die aufgedrückten Regeln gibt es nicht. Auch betriebsbedingte Gründe kann es nicht geben – soeben hat zumindest sein Arbeitgeber einen Expansionsschritt gemacht, an den Finanzen liegt es also nicht. Dennoch soll sein neuer Arbeitsvertrag bei der „Flaschenpost-Durstexpress“-Fusion nur noch 26 Wochenstunden umfassen – ob hier Überstunden ohne Bezahlung vorausgesetzt werden, ist noch unklar.
Der gemeinsame Name wird „Flaschenpost“, doch seine alten Chefs wären auch die neuen, plus Manager des aufgekauften Unternehmens. Dass sich die Art der Beschäftigung wie bislang bei „Durstexpress“ fortsetzt, liegt nahe.
Seinen bisherigen Arbeitsvertrag hat er mit der GmbH gleichen Namens in der Berliner Lise-Meitner-Straße 45 unterschrieben. Hinter all dem steht die bekannte Marke „Oetker“, die Erfinder der Tiefkühlpizza. Und Zahler von mutmaßlich einer Milliarde Euro für den zeitlich eher gestarteten Konkurrenten „Flaschenpost SE“.
Eine Zahl, die „Oetker“ bislang weder bestätigt noch dementiert. Die aber angesichts des disruptiven Liefermodells von „Durstexpress“ unter dem Slogan „so günstig wie im Supermarkt“ auf Kosten des Einzelhandels und den dort beschäftigten Menschen, den 22 übernommenen Standorten von „Flaschenpost“ und der „StartUp“-Hoffnung, dass zukünftig immer mehr Kunden statt selbst einige Meter Flaschen vom Nahversorger nach Hause zu tragen, einen Dieseltransporter dafür bestellen, möglich scheint.
Mit der Bequemlichkeit ist schon immer gutes Geschäft zu machen. Umweltkrise, Autokrise in verstopften Städten hin oder her. Und es findet auf dem Rücken der Mitarbeiter statt.
Oetker hat offiziell eine andere Philosophie. Wenn man Firmenaussagen trauen möchte, kann man auf der Webseite des Konzerns lesen, die Unternehmen der Oetker-Gruppe seien sich „auch ihrer Verankerung im sozialen Umfeld bewusst, engagieren sich in besonderer Weise für die Mitarbeiter sowie für soziale Belange und stellen somit die Beziehung der Oetker-Gruppe zur Gesellschaft auf eine vertrauensvolle Grundlage.“
Protest vor der Tür
Mittlerweile ist die Wut bei den Beschäftigten des durstigen Expressdienstes über die Fusion auch in Leipzig gestiegen. Und Grund dafür sieht der Leipziger Bundestagsabgeordnete Sören Pellmann genug: „Während in der Zentrale des Dr. Oetker-Konzerns die Sektkorken knallen und die Konzernführung mit einer weiter wachsenden Rendite rechnet, rechnen die Beschäftigten damit, gekündigt zu werden und sich in Coronazeiten auf der Straße wiederzufinden.“
Und weiter, so Pellmann: „Anstatt endlich die Gründung von Betriebsräten zu begrüßen, befristete Arbeitsverträge in ordentliche Stellen umzuwandeln oder Urlaubs- und Weihnachtsgeld zu zahlen, werden die, die den Erfolg erwirtschaften, bestraft.“
Rollt beim Durstexpress. Video: LZ
Es scheint, als ob sich die beiden fusionierenden Unternehmen entschlossen hätten, das Milliardengeschäft an den Angestellten vorbei zu machen. Was neben Parteien wie die Linke und die SPD in Leipzig auch die Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) auf den Plan ruft. Es wird Proteste geben.
Jörg Most von der NGG zum Samstag, 23. Januar 2021: „Wir haben die Beschäftigten bereits gebeten, morgen, um 14:15 Uhr, am Standort zu sein. Der Eingang ist die Eythstraße. Die Betriebsräte der Radeberger Gruppe (Brauereien) werden uns unterstützen.“ Offenbar haben die Bierbrauer unter dem Firmendach der „Oetker Gruppe“ verstanden, wohin der Lieferdienst des gleichen Unternehmens hier bezüglich Arbeitnehmerrechte steuert.
Ab Montag sei zudem eine „Mahnwache am Eingang Eythstrasse von 10:00 bis 16:00 Uhr“ geplant. Und auch „bei Flaschenpost in der Pelzgasse“ wird man in der kommenden Woche demonstrieren kommen.
Eine skurrile Situation: Während die Gewinne für alle Onlineanbieter und Lieferdienste in Lockdownzeiten steigen, kündigt sich in Leipzig ein drastischer Arbeitskampf wegen Lohndumpings und einer Fusion an, die die Mitarbeiter mit neuer Unsicherheit bezahlen sollen. Nach LZ-Informationen soll der Zusammenschluss nach diesem Muster auch arbeitsrechtlich angefochten werden.
Vielleicht Zeit, mal wieder über Niedrigstpreise bei gleichzeitiger Fullservice-Mentalität bei den neuen Modellen á la Uber, Facebook und Co. nachzudenken. Irgendwer zahlt immer dafür, wenn alles nichts mehr wert ist.
Hinweis d.Red.: In einer ersten Version hieß es, es habe bereits Kündigungen bei “Durstexpress” gegeben. Diese gab es nicht, stattdessen kam die Aufforderung, sich zu meist schlechteren Bedingungen bei “Flaschenpost” zu bewerben.
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