Vom tragischen Schicksal des Unister-Gründers Thomas Wagner (38) ist in den letzten Wochen viel zu lesen gewesen. Die letzten, tragischen Stunden in seinem und im Leben seiner letzten Begleiter werden nun umgegraben, Venedig, Absturz einer Maschine, Falschgeld und Betrug. Doch abzusehen waren Teile der wirtschaftlichen Gesamtentwicklung bereits, wenn man in den vergangenen Jahren offenen Auges durch das Unternehmen ging. Was nun mit dem Unternehmen selbst geschehen ist, hatte viele Gründe.
Wenn man jedoch einmal einen Einblick in die Unternehmensstruktur (wenn man von wirklicher Struktur überhaupt sprechen kann) erhalten hat, konnte man einiges mindestens erahnen. Der Autor, der aus verständlichen Gründen nicht genannt werden kann (Name der Red. bekannt), hat selber einige mehr oder weniger intensive Begegnungen mit dem Unternehmen respektive mit dessen Mitarbeitern gehabt. Darunter zählt eine mehrwöchige Ausbildung bei einem der von Unister betriebenen Urlaubsportale sowie eine Vorstellung beim Online-Bild-Boulevard-Plagiat news.de. Alle diese Begegnungen blieben beim Autor als eher zwiespältige bis recht zweifelhafte Eindrücke in Erinnerung.
Da ist zum einen das schier unüberschaubare Geflecht von Sub-Sub-Tochterunternehmen, die zudem noch über ganz Leipzig auf verschiedene mehr oder weniger komfortable Großraum-Bürokomplexe verstreut sind. Wobei Komplex eher schon zu hoch gegriffen ist, erinnern die Räumlichkeiten doch, wie fast alle Callcenter, eher an Kaninchenställe. Hinzu kommt eine recht intransparente Hierarchie – von der Buchhaltung, wie inzwischen hinlänglich bekannt, mal ganz abgesehen.
Unternehmenskultur und Arbeitsbedingungen
So wird z. B. die „Duzokratie“ im Unternehmen immer wieder betont, doch manchmal würde man sich lieber siezen lassen. Mit diesem „Du“ entsteht eine Vertrautheit, die funktionieren könnte, wäre sie denn auch real vorhanden gewesen. So bleibt es ein Scheinvertrauen innerhalb einer Hierarchie ohne wirkliche Augenhöhe. Natürlich besonders zu den Vorgesetzten und Ausbildern beim Telefonjob. Ganz davon abgesehen, dass das mit dem Duzen ab gewissen Dienstgraden innerbetrieblich nicht wirklich empfohlen wird. Denn niemand war hier wirklich gleich. Die verschiedenfarbigen Chipkarten, die das Betreten der Diensträume erlaubten, widersprachen quasi in sich den angeblichen Duzbeziehungen. Je nach Farbe von orange bis grau konnte man auf den Rang und die Privilegien im Unternehmen schließen. Zwar wurde einem beim Einstieg ins Unternehmen u. a. mit auf den Weg gegeben: „Klar duzen wir uns alle hier. Wir sind hier alle gleich.“ Doch schnell lernte man: fast alle. Denn manche sind eben gleicher (s. George Orwell, „Die Farm der Tiere“). „Sollte einem also mal auf dem Flur jemand mit einer grauen Chipkarte begegnen, dann ist das ‚Du‘ vielleicht nicht gerade angebracht“, wurde einem dann von den Ausbildern vertrauensvoll nahegelegt. Wie nun?
Natürlich ist das alles noch kein Hinweis dafür, wie gut ein Unternehmen geführt wird bzw. wie gut das Management wirtschaftet. Da half auch keine noch so scheinbar gut gemeinte Transparenz via Intranet, wo man sich vermeintlich über alles auf dem Laufenden halten konnte, was im Unternehmen vor sich geht. Denn was hinter den Kulissen wirklich abläuft, blieb auch bei Unister wie letztlich bei vielen (oder allen?) anderen Unternehmen und Konzernen weitestgehend im Dunkeln.
Das übrigens funktionierte in die andere Richtung ganz anders. Der „kleine“ Angestellte des Unternehmens wurde mittels Computertechnologie quasi vollständig überwacht. Jede kleinste Pause, jeder Toilettengang, jede Zigarette, die geraucht wurde, wurden aufgezeichnet und die Zeit gegebenenfalls vom Arbeitskonto abgezogen. Auch damit dürfte Unister nie allein gewesen sein, doch ob das nun Ausdruck der so oft bemühten flachen Hierarchien ist, sei dahingestellt.
Übrigens, so abstrus es klingen mag, während des Gangs auf die Toilette bzw. beim Benutzen derselben war man nicht versichert. Sollte man also durch irgendeinen unglücklichen Umstand dabei verunfallen: Pech gehabt. Übernimmt keine Versicherung. Auf ungläubiges Nachfragen hin wurde dies auch nachdrücklich bestätigt.
Zurück zu den in der Stadt verstreuten Büroräumen bzw. Callcentern. Auch hier die Mischung aus ewigem StartUp, Geldersparnis und kumpelhafter Ausbeutung. Klimaanlage: Fehlanzeige. Kurze Hosen und Eispack unter dem Headset auf dem Kopf waren die einzigen Auswege, um der tropischen Hitze im Sommer zu entgehen. Die Umgebung: Zig Rechner laufen in einem Großraumbüro gleichzeitig und sorgen so für eigentlich unzumutbare Arbeitsbedingungen.
Sind das wirklich die Attribute, die ein modernes, innovatives und zukunftsweisendes Unternehmen ausmachen? Das darf, wie die bisherigen Erkenntnisse zeigen, mit Fug und Recht bezweifelt werden. Dennoch sollte man Unister, schon im Interesse der vielen engagierten Mitarbeiter, alles Gute für die weitere Entwicklung wünschen. Auch wenn das Unternehmen nicht mehr so heißen könnte, gekauft, übernommen oder komplett zerschlagen würde: Manchem mag die Leipziger Firma den Berufseinstieg ermöglicht haben. Für „alte Hasen“ war es eher nichts.
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