Offenbar empfand Franz Kafka die Verflechtung von individuellem und historischem Schicksal schon außergewöhnlich früh, und seine eigene Existenz bot ihm dafür Anschauungsmaterial genug. Er wurde am Rande des Prager Ghettos geboren, kurz vor dessen endgültigem Untergang. (...) Er lernte Menschen kennen, die daran glaubten, dass Juden rituelle Morde begingen, und die im selben Atemzug von der Zukunft der tschechischen Nation schwärmten.
Er traf Ältere, die sich noch an die letzten öffentlichen Hinrichtungen in Prag erinnern konnten und die jetzt die ersten Autos und Kinematographen bestaunten. Und er wohnte viele Jahre am Altstädter Ring, an jener sozialen Bühne also, auf der man immer aufs Neue die Ereignisse von 1620/21 beschwor (…). Wie vieles davon Inszenierung war, durchschaute Kafka; wie wenig an Inszenierung es aber bedurfte, um der realen Gewalt des Vergangenen neue Bahn zu brechen, das fühlte und erlebte er.
Im dritten und letzten, chronologisch jedoch ersten Band seiner hochgelobten dreiteiligen Kafka-Biographie widmet sich Reiner Stach den Jahren 1883 bis 1911 und damit den bislang schlecht dokumentierten frühen Jahren Franz Kafkas. Mit diesem für den Preis der Leipziger Buchmesse 2015 nominierten Band beendet Stach ein Projekt, an dem er insgesamt achtzehn Jahre gearbeitet hat.
Reiner Stach, geboren 1951 in Rochlitz/Sa., gestaltete 1999 die Ausstellung Kafkas Braut, in der er den Nachlass Felice Bauers präsentierte, den er in den USA entdeckt hatte. 2008 wurde er für Kafka. Die Jahre der Erkenntnis mit dem Sonderpreis zum Heimito-von-Doderer-Literaturpreis ausgezeichnet.
Leipzig, Haus des Buches, Literaturcafé
Donnerstag, 17. September 2015, 19:30 Uhr
Eintritt: 4 / 3 Euro
Veranstaltung des Sächsischen Literaturrates e.V. und des Kuratoriums Haus des Buches e.V. Leipzig.
Reservierungen unter 0341 / 350 59 61
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