Auf diesen Tag hat Marie Branser seit Jahren hingearbeitet. Wenn die Leipziger Judoka am 29. Juli die Matte betritt, wird für sie der größte sportliche Traum wahr. Denn an eben jenem Donnerstag greift die 28-Jährige in Tokio erstmals aktiv bei Olympischen Spielen ins Wettkampfgeschehen ein. Besonders daran ist, dass die Athletin des SC DHfK nicht unter deutscher Flagge ins Rennen geht, sondern für die Demokratische Republik Kongo startet. Ein eher ungewöhnlicher Schritt, der auch Kritiker/-innen auf den Plan rief.

Die sportliche Karriere von Marie Branser begann in frühester Kindheit zunächst mit Turnen. So richtig glücklich wurde sie damit aber nicht. Nach einem Probetraining beim Judoclub Leipzig (JCL) entdeckte die junge Sportlerin dann aber ihre wahre Passion. Sie blieb dabei und feierte schon in jungen Jahren erste Erfolge. Und diese beflügelten einen ganz besonderen Traum: „Ich hatte schon als kleines Kind den olympischen Traum. Dieser hat sich dann bei mir durch die ganzen Jahre gezogen“, verrät Branser.Sportlich schien die Richtung zu stimmen: „Ab Ende 2007 war ich in der deutschen Nationalmannschaft, damals U17. In der U21 habe ich meine erste Europameisterschaft für Deutschland gekämpft und in der U23 eine weitere. Dazu kamen insgesamt drei Studenten-Europameisterschaften mit jeweils Bronze.“

Doch mit der Spitzensportreform in Deutschland ging auch ein tiefer Einschnitt in die sportliche Karriere der gebürtigen Leipzigerin einher. Denn Mitte 2018 fiel sie der Verkleinerung des Bundeskaders zum Opfer und wurde aussortiert. Damit ging ihr auch die bisherige Förderung verloren.

„Das waren insgesamt 600 Euro, die nun monatlich wegfielen. Das ist für eine Studentin in einer Randsportart ein Haufen Geld. Außerdem war ich nicht mehr in den Förderstrukturen, um Sachzuwendungen bekommen zu können, wie beispielsweise Judoanzüge oder Bandagen“, erklärt Branser. „Ich habe mir gesagt, wenn die Förderstrukturen das hier nicht hergeben, muss ich mir eben etwas anderes suchen. So habe ich das Kapitel für mich ohne Groll abgeschlossen und nach vorne geschaut.“

Kurz zuvor hatte die Judoka erst ein halbes Jahr in Paris verbracht, um sich sportlich weiterentwickeln zu können. „Ich habe dort super Fortschritte gemacht, da ich mit internationalen Top-Leuten einen guten Gradmesser hatte. Doch dann kam die Entscheidung, dass ich aus dem Kader genommen wurde – eine Entscheidung, die ich nicht beeinflussen konnte. Zu diesem Zeitpunkt ganz mit dem Sport aufzuhören, wäre aber schade gewesen, weil ich sportlich gerade auf einem guten Sprung war.“

Ihr Trainer in Frankreich gab Branser dann einen richtungsweisenden Tipp mit auf den Weg: „Er hat gesagt: Wechsle das Land, suche dir eine andere Nation, und gehe deinen Weg weiter.“ Denn der große Traum von Olympia hatte nach wie vor Bestand. Im Februar 2019 begann Marie Branser schließlich damit, sich nach einer neuen Sportnationalität umzuschauen.

„Nationenwechsel im Judo“ – genau das war zwei Jahre zuvor sogar das Thema ihrer Bachelorarbeit gewesen. Allerdings hatte sie damals noch mit keiner Silbe daran gedacht, selbst einmal einen solchen Wechsel in Erwägung zu ziehen. „Man hat das im Judo immer mal mitgekriegt, dass es Sportler gab, die für ein anderes Land starten. Das fand ich spannend, und darüber wurde noch nie geschrieben.

Die Leipziger Zeitung, Ausgabe 92. Seit 25. Juni 2021 im Handel. Foto: LZ
Die Leipziger Zeitung, Ausgabe 92. Seit 25. Juni 2021 im Handel. Foto: LZ

Durch meinen Trainer in Frankreich habe ich in diesem Bereich viele Leute kennengelernt, mit denen ich Interviews führen konnte. Mich haben die jeweiligen Hintergründe der einzelnen Athleten interessiert“, begründet Branser ihre Themenwahl anno 2017.

„Mein Pool an Interviewpartnern war so breit gefächert, dass ich sagen kann: Jeder hatte ein anderes Motiv, und jeder hat andere Bedingungen daraus gezogen. Die einen haben finanziell profitiert, die anderen wollten die Nationalität ihrer Mutter annehmen, wieder andere haben es wegen großer sportpolitischer Probleme im eigenen Land gemacht. Das war ein sehr interessantes Thema für mich.“

Eine wichtige Erkenntnis hatte die Sportstudentin schon damals erlangt: „Viele denken, der Nationenwechsel sei der leichtere Weg, aber das ist er keineswegs. Denn egal für welche Nation du startest, du ordnest dein privates Leben dem Leistungssport und deinen Zielen unter, nimmst dafür auch einen eher schwierigeren Weg in Kauf und gibst damit ein Stück weit deine Freiheiten auf.“

Dass Branser ihre eigene Bachelorarbeit einmal selbst weiterhelfen könnte, war damals noch nicht abzusehen. Doch als sie schließlich selbst ihren Nationenwechsel in Angriff nahm, kam ihr das zugute. „Die Arbeit hat es mir selbst dann auch ein bisschen leichter gemacht, weil ich schon wusste, was auf mich zukommt, zumindest von den Schritten her, die ich gehen muss. Aber ich habe meine Arbeit nicht als Handbuch verwendet, sondern habe mir viel Hilfe über meinen französischen Trainer geholt, der mir gesagt hat, was ich jeweils als Nächstes zu machen hatte oder welche Briefe ich schreiben sollte.“

Aber wie wechselt man die Nation? „Das geht damit los, dass man die neue Nation offiziell anschreiben muss und sich damit für die Sportnationalität bewirbt“, erklärt Branser. Sie selbst fragte neben dem Kongo auch weitere Staaten an, unter anderem in Mauritius, Mosambik oder Sambia. „Danach muss man seine Heimatnation benachrichtigen und um Freigabe bitten. Der Deutsche Judo-Bund (DJB) hätte mich auch für drei Jahre sperren können. Doch wir waren im Reinen auseinandergegangen und sie wollten mir keine Steine in den Weg legen. So hat der DJB bestätigt, dass ich frei bin für die neue Nationalität.“

Schließlich muss auch noch der Weltverband, die Internationale Judo-Föderation (IJF), zustimmen, und dann sind nur noch bürokratische Angelegenheiten vor Ort zu klären, vor allem natürlich die Übergabe des neuen Passes.

Marie Branser entschied sich schließlich für die Demokratische Republik Kongo. Ausschlaggebend dafür war zum einen die Tatsache, dass das Wechselprocedere schnell und unkompliziert über die Bühne zu bringen war. Außerdem hatten ihre Großeltern längere Zeit im Kongo gelebt und konnten ihr Informationen und Tipps zum Land geben. Zudem hatte ein Freund des kongolesischen Judo-Präsidenten in Deutschland gelebt und konnte ihr als Dolmetscher bei den bürokratischen Angelegenheiten behilflich sein.

„Das waren alles Faktoren, bei denen mein Bauchgefühl gesagt hat: Mit dem Kongo machst du nichts falsch“, sagt Branser. Ende April 2019 konnte sie den kongolesischen „Passeport de Service“ entgegennehmen – ein Dienstpass, der es ihr ermöglicht, für das Land Wettkämpfe zu bestreiten. Sie bleibt auch weiterhin deutsche Staatsbürgerin.

Judo, Marie Branser machte ihren Olympia-Traum wahr. Foto: Jan Kaefer
Marie Branser machte ihren Olympia-Traum wahr. Foto: Jan Kaefer

Sportlich hat die Leipzigerin im Kongo bereits zwei wichtige Erfolge feiern können: 2020 und 2021 gewann sie die Afrikanische Meisterschaft. „Für mich war das ein Wahnsinnsgefühl!“, strahlt Branser. „Als ich das Finale gewonnen hatte, habe ich beide Male vor Glück geweint. Denn man arbeitet hart dafür, und da hat sich diese Arbeit ausgezahlt. Beim ersten Mal war es natürlich etwas ganz Besonderes, weil es der erste Afrikanische Meistertitel überhaupt für den Kongo war und für mich der erste kontinentale Meistertitel.“

Im Land sorgten diese Erfolge für eine regelrechte Judo-Euphorie. „Viele Kinder im Kongo wollen jetzt auch selbst Judo machen, was ein schöner Nebeneffekt ist. Ich fliege nächste Woche für vier Tage nach Kinshasa und hoffe, dass ich dort gerade auch die jungen Mädchen erreichen kann. Judo war dort bisher eher als Straßenschläger-Sport verpönt und hat jetzt einen positiven Touch bekommen.

Aktuell bin ich dort relativ bekannt, und viele sind Fans geworden. Diesen Effekt möchten der Verband und ich nutzen, um vor allem junge Mädchen zum Judo zu motivieren. Denn Judo gibt einem ganz viel an Werten, gerade in der Prägung: Disziplin, Respekt, Pünktlichkeit – aber auch Selbstvertrauen“.

Doch vor allem aus Deutschland schlägt Marie Branser für diesen Nationenwechsel auch Kritik entgegen. „Die Leipzigerin hat eine einheimische kongolesische Konkurrentin in der Klasse bis 78-Kilogramm verdrängt, die seither nicht mehr an internationalen Wettkämpfen teilnehmen kann“, schreibt die taz am 22.12.2020 in einer Kolumne. Aber stimmt dieser Vorwurf?

Die erwähnte kongolesische Judoka ist die 36-jährige Monica Bwanga. Auf der Homepage des Weltverbandes (IJF) ist eine Übersicht ihrer internationalen Wettkämpfe zu finden. Es fällt auf, dass diese bereits vor 2019 äußerst rar waren, nämlich jeweils einer in den Jahren 2007, 2010 und 2015. 2019 waren es dann derer zwei. Ein direkter Bezug zur neuen Konkurrentin aus Leipzig drängt sich dabei nicht auf.

Außerdem stellt Marie Branser klar: „Es gibt im Judo die Regel, dass jedes Land international pro Gewichtsklasse zwei Leute an den Start bringen kann. Sie hatte also immer die Chance gehabt, zu starten. Ich habe daher niemandem einen Platz weggenommen“. Das positive Feedback und die Wertschätzung, die Branser aus dem Kongo erhält, ist für sie Bestätigung dafür, „dass ich nicht einfach in das Land eingedrungen bin und dort Negativ-Publicity mache, sondern ihnen etwas bringe.“ Ihren Kritiker/-innen hält sie entgegen: „Ihr seid alle nicht in meinen Schuhen gelaufen, seid alle nicht den Weg gegangen, den ich gegangen bin, ihr wisst nicht, was ich unterwegs dafür alles in Kauf genommen habe.“

Mit dem Ende der Weltmeisterschaft Mitte Juni steht nun endgültig fest, dass sich Marie Branser für die Olympischen Spiele in Tokio qualifiziert hat. Ihr olympischer Traum wird Wirklichkeit. „Ich fahre dahin, um mein Bestes abzurufen“, verspricht die 28-Jährige. „Wenn ich das schaffe, ist alles möglich. Ich glaube fest daran, dass ich in der Lage bin, eine Medaille zu erkämpfen. Aber es kann durchaus auch sein, dass ich nach der ersten Runde schon duschen gehen kann – denn im Judo ist alles möglich.“

„Zwischen Euphorie und kritischen Stimmen: Marie Branser startet für den Kongo bei den Olympischen Spielen“ erschien erstmals am 25. Juni 2021 in der aktuellen Printausgabe der LEIPZIGER ZEITUNG. Unsere Nummer 92 der LZ finden Sie neben Großmärkten und Presseshops unter anderem bei diesen Szenehändlern.

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