LEIPZIGER ZEITUNG/Auszug aus der Ausgabe 37Wenigstens ein Vorurteil hat sich bestätigt: „Ich habe alle Rocky-Filme gesehen, das ist meine Welt!“, gibt Sandra Atanassow lachend zu. Die 32-jährige Boxerin hatte vor vier Wochen allen Grund zum Jubeln: Bei der Internationalen Deutschen Meisterschaft gewann sie im Federgewicht den ersten Gürtel ihrer noch jungen Profi-Karriere.
Zumindest musikalisch hatte ihr dabei Rocky ein bisschen Schützenhilfe leisten können – denn der Song „No easy way out“ aus Teil IV begleitete die Leipzigerin auf ihrem Weg in den Ring. „Wenn ich diese Szene in Rocky IV sehe, ist das Gänsehaut-Feeling. Denn ich weiß genau, wie schwer das ist, dieses Training zu schaffen. Du siehst die Szene und willst am liebsten gleich selbst zum Training“, beschreibt Atanassow die stimulierende Wirkung, die dieser Track auf sie ausübt. Etwa zwei bis drei Prozent mehr Leistung – so schätzt sie – kitzelt diese Einlaufmusik zusätzlich aus ihr heraus.
Bei Atanassows Titelgewinn am 29. Oktober in Dettenheim (bei Karlsruhe) bekam das die Polin Karina Kopinska zu spüren. Nach zehn intensiven Runden unterlag sie der Leipzigerin einstimmig nach Punkten. „Ich habe auch gleich gemerkt, die kann eine Menge einstecken, das wird ein Zehn-Runden-Kampf, das kriegst du nicht vorzeitig hin“, verrät Atanassow. Wir haben beide bis zur letzten Runde versucht, alles rauszuholen. Und wichtig für mich ist, wenn du am Ende sagen kannst, du hast dir das wirklich erkämpft. Denn das war schon ordentlich, was wir uns da geboten haben“.
Erst im vergangenen Jahr debütierte die Diplom-Ingenieurin im Profi-Zirkus. Am 25. April 2015 ließ sie dabei der Lettin Jekaterina Lecko per technischem K.o. (TKO) in der dritten Runde keine Chance („Ich habe mich gefragt: ‚Wie, das war‘s jetzt schon!?‘ So überlegen zu sein, ist schon krass.“). Es folgten Siege über Petra Castkova aus Tschechien (20. Juni 2015), Marianna Gulyas aus Ungarn – ebenfalls vorzeitig per TKO – (12. Dezember 2015) und die vielfache EM-/ WM-Titelträgerin Doris Köhler aus Österreich (16. April 2016), bevor gegen Kopinska der erste Titelgewinn perfekt gemacht werden konnte.
Als nächster logischer Schritt in der Karriereleiter würde nun der Griff nach einem nächsthöheren, zum Beispiel einem interkontinentalen Titel anstehen. Welche Pläne Sandra Atanassow diesbezüglich konkret schmiedet, ließ sie sich auch auf wiederholte Nachfrage nicht entlocken. „Ich gebe nur Sachen bekannt, die wirklich in Sack und Tüten sind. Da bin ich immer sehr vorsichtig“, erklärt sie. „Natürlich gibt es einen Fahrplan!“, lässt sie wenigstens schmunzelnd durchblicken. „Wir haben schon einige Gespräche geführt, denn so ganz kann ich das ja nicht dem Zufall überlassen“.
So schön der Gewinn des ersten Gürtels auch war, finanziell hat sich der Triumph nicht ausgezahlt. Dicke Siegprämien, wie sie bei den Männer-Kämpfen im Fernsehen üblicherweise ausgelobt werden, sind für weibliche Faustkämpferinnen pure Utopie. „Geld verdienst du in Deutschland damit überhaupt nicht, zumindest nicht auf dem Level, auf dem ich mich bewege“, schildert Atanassow die bittere Realität. „Du kannst froh sein, wenn du irgendwo eine Veranstaltung findest, auf der du als Frau boxen kannst. Wenn du nicht schon drei Weltmeistertitel hast, kannst du es vergessen, auf einer großen Veranstaltung zu kämpfen“.
Die Folge: „Ich zahle sogar drauf, muss alles selber finanzieren. Aber mein Herz hängt nun mal an diesem Sport“. Ihr tägliches Brot verdient die 32-Jährige im Vollzeitjob als Systemadministratorin beim Mitteldeutschen Rundfunk.
Wem nun die Vermutung keimt, dass es dem Frauenboxen insgesamt an gesellschaftlicher Anerkennung mangelt, dem sei gesagt: Stimmt! Selbst eine erfolgreiche Sportlerin wie Sandra Atanassow hat die Vorurteile am eigenen Leib erfahren. „Es gibt die Kategorie Männer, die das Ganze belächeln und dich als Frau gar nicht ernst nehmen. Die stellen sich hin und sagen: ‚Mädel, was willst du denn hier? Du kannst an den Herd gehen und was Schönes kochen, da bist du besser aufgehoben‘. Solche Sprüche wurden mir schon an den Kopf geknallt“.
Selbst manche Trainingseinheit wurde so unfreiwillig zum Geschlechterkampf. „Auch im Training hast du manchmal Männer dabei, die dir zeigen müssen, dass sie Männer sind. Die zimmern dir Dinger rein, wo du denkst: ‚Trainer, nimm die bitte raus!‘. Was soll ich als Frau gegen einen 80-Kilo-Mann ausrichten, logisch, dass der stärker ist“.
Ein wundersamer Paradigmenwechsel stellte sich erst ein, als Atanassow 2015 ins Profi-Lager wechselte. „Seit ich mich im Profibereich bewege, treten mir die Leute mit deutlich mehr Respekt gegenüber. Die Resonanz ist wahnsinnig gestiegen, das ist schon echt krass. Da gibt es Situationen, in denen ich denke: ‚Hä!? Das habe ich doch die letzten acht Jahre genauso gemacht. Das ist doch jetzt nichts anderes.‘“ Die Ursache dafür sieht sie hauptsächlich darin, „dass der Amateursport leider medial überhaupt nicht unterstützt wird. Es hatte kaum jemanden interessiert, ob du irgendein Turnier gewonnen hast“.
Gewonnen hat die Leipzigerin sehr oft, lernte aber auch das Gefühl der Niederlage kennen
„Eine Niederlage ist nicht einfach zu verarbeiten, das geht an die Substanz. Da gibt es die Tage danach, wo ich am liebsten den Kopf in den Sand stecken würde. Dann leistet mein Trainer Torsten Müller gute Arbeit, indem er mir das Positive aufzeigt“, beschreibt Atanassow die dunklen Momente.
„Das Schlimmste ist, wenn du merkst, dass du es gerade völlig vergeigst, weil du aus irgendeinem Grund nicht in den Kampf gefunden hast und dich danach grün und blau ärgerst“. Doch so bitter das Verlieren auch ist, der Blick geht immer wieder nach vorn. „Es ist tatsächlich so, dass dich eine Niederlage stärker macht, weil du genau merkst, wo dein Schwachpunkt war und dann daran arbeiten kannst. Du nimmst dir immer das her, wo du im Kampf ein Defizit hattest. Genau das liebe ich an diesem Sport: Du bist nie fertig. Man selber und das Training verändern sich permanent. Das finde ich auch nach all den Jahren total faszinierend“.
Für diese Faszination ist die Boxerin bereit, nahezu ihre gesamte Freizeit zu opfern. „Es ist wirklich ein Spagat, das alles zu schaffen“, gibt sie zu. „So lange es Spaß macht, ist alles schön, es gibt aber auch Tage, wo ich sage: ‚Ich habe keinen Bock mehr, das nervt mich alles‘. Die Leute sehen immer nur das Schöne, aber nie, was an Blut, Schweiß und Tränen fließt. Es gibt die Tage, wo du zu Hause sitzt und sagst: ‚Ich kann nicht mehr, ich falle jetzt tot um‘. Das will keiner hören, aber das gehört dazu. Trotzdem würde ich immer wieder ‚Ja!‘ sagen. Ich bereue nicht einen Tag!“
In knapp zwei Stunden Interview und Fotoshooting mit Sandra Atanassow schmolzen die Vorurteile über Boxerinnen wie Eiswürfel in der Mittagssonne. Das des finster drein blickenden Raubeins lachte sie bereits weg, bevor das Gespräch überhaupt richtig begonnen hatte. Und wie verhält es sich mit handfesten Schlägereien im Alltag?
„Nein, niemals. Ich bin eine Sportlerin und möchte mich auch klar von so etwas distanzieren“, versichert sie glaubhaft. „Boxen ist eine sehr anspruchsvolle Sportart für alle Sinne, in der es um Technik, Taktik, Kondition und Reaktion geht“.
Mehr Informationen zur Boxerin sind auf ihrer Facebook-Seite „Sandra Atanassow“ zu finden.
Keine Kommentare bisher