LEIPZIGER ZEITUNG/Auszug Ausgabe 79, seit 29. Mai im HandelAuf den Tag genau vor fünf Jahren erschien mit der 1. Ausgabe der LEIPZIGER ZEITUNG (LZ) auch meine erste große Sportgeschichte. Es war die Geschichte der Leistungssportlerin Melanie Apitzsch, die zuvor als großes Leipziger Talent auf den langen Laufstrecken und über 3.000 Meter Hindernis galt. Doch der härteste Wettkampf fand für sie nicht auf der Rundbahn statt, sondern es war der Kampf mit sich selbst, der Kampf gegen Essstörungen.

Fast drei Monate lang hatte sie sich damals in Leipziger Kliniken behandeln lassen, was zum Zeitpunkt der LZ-Veröffentlichung gerade erst ein knappes halbes Jahr zurücklag. Doch wie würde die 22-Jährige die vor ihr liegenden Herausforderungen bewältigen? Was ist künftig mit Sport? Welche Einstellung wird sie zum Essen finden? Wird die ambulante therapeutische Begleitung eventuelle Rückschläge abfedern können? Wie geht es weiter mit Job und Partnerschaft?

Ich wollte die Antworten auf diese Fragen erfahren. Fünf Jahre nach dem ersten Artikel habe ich Melanie Apitzsch erneut um ein Interview gebeten. Die inzwischen 27-Jährige hat sofort zugestimmt – und mich auf ihre Zeitreise durch die zurückliegenden Jahre mitgenommen. Es ist keine „Alles-ist-gut-Geschichte“, es ist eine Geschichte aus dem „echten“ Leben, über die Höhen und Tiefen, über die ständigen Herausforderungen, die bewältigt werden müssen, um den Kampf gegen die Krankheit zu meistern.

Der große Rückschlag kam schon im Jahr 2016. Ausgangspunkt war eine größere Darm-Operation, die als Folge „der ganzen Essens-Thematik“ notwendig geworden war. Fast zwei Wochen lang verbrachte Apitzsch damals in der Uni-Klinik und wurde während dieser Zeit über den Tropf ernährt. „Ich empfand das als eine Art Erlösung, denn ich musste mir keine Gedanken ums Essen machen, da ich ja sowieso nichts essen durfte.“

Das Titelblatt der LEIPZIGER ZEITUNG Nr. 79, Ausgabe Mai 2020. Foto: Screen LZ

Doch diese Erlösung war nur die Ruhe vor dem Sturm. „Als ich nach diesen zwei Wochen wieder feste Nahrung zu mir nehmen konnte, trat die Essstörung wieder stark hervor. Ich habe mich dann niemandem mehr geöffnet und alles nur noch mit mir selbst ausgemacht.“ Sogar ihrer Therapeutin gegenüber vermochte sich Melanie Apitzsch in dieser Situation nicht mehr anzuvertrauen. „Das war natürlich nicht richtig“, reflektiert sie heute.

Trotzdem gab sie sich ihrem Schicksal nicht einfach so hin, sondern führte sich ihre persönlichen Lebensziele vor Augen. „Ich habe gemerkt, das geht so nicht weiter. Denn ich wollte unbedingt meine Ausbildung anständig beenden und habe Ziele im Leben. Ich will eine Familie gründen, ein gesundes Leben führen und so weiter. Also habe ich mir gesagt: Reiß’ dich zusammen, mach’ etwas und suche dir Hilfe!“

Aber wo? „Ich wusste, dass nach dem ersten Klinikaufenthalt hier in Leipzig die therapeutischen Möglichkeiten für mich ausgereizt waren. Daraufhin habe ich beschlossen, andere Wege zu gehen und meine Komfortzone zu verlassen. Ich wollte in eine Klinik, die 350 Kilometer weit weg ist und genau auf Essstörungen spezialisiert ist.“ Ihre Wahl fiel auf die Klinik in Bad Oeynhausen, einem Fachzentrum für gestörtes Essverhalten.

Doch die Therapieplätze dort sind begehrt und lange im Voraus ausgebucht. „Ich habe ein dreiviertel Jahr auf einen Platz gewartet. Das war eine harte Zeit“, erinnert sich Apitzsch. Doch dann ging es plötzlich ganz schnell. „Am 2. Januar 2018 habe ich spontan Bescheid bekommen: Es ist ein Platz frei, Sie können in drei (!) Tagen hier antanzen! Da gab es natürlich einiges zu organisieren, denn außer meinem damaligen Freund wusste darüber noch niemand wirklich Bescheid.“

Pünktlich traf Melanie Apitzsch in der Klinik in Bad Oeynhausen ein. „Dort hieß es erst mal: Zwei Wochen Kontaktsperre, keine Briefe, kein Handy, kein Ausgang – außer in kleinen Gruppen mit Therapeuten und nur für höchstens eine Stunde. Das war schon wirklich straff. Aber das Konzept der Klinik hat mich so überzeugt, dass ich mich damit identifizieren konnte.“ Drei ganze Monate lang arbeitete sie nun intensiv daran, sich der Krankheit erfolgreich entgegenstellen zu können.

Immer und immer wieder musste sich die junge Frau mit ihrem Essverhalten auseinandersetzen. „Manchmal saß ich dort beim Essen und habe geheult, weil ich das für mich nicht als passende Portion empfunden habe. Im Laufe der Zeit hat sich das gelegt, aber es war für mich eine riesige Herausforderung. Ich habe gemerkt, wie sehr die Essstörung noch da ist und wie laut sie ist. Das war heftig. Auf der anderen Seite ist diese Konfrontation sehr lehrreich gewesen.“

Ostern 2018 war der Klinikaufenthalt abgeschlossen und für Apitzsch ging es zurück nach Leipzig. „Nun hieß es, aus dieser geschützten Klinik-Zeit wieder ins normale Leben zu starten. Wir haben Zettel bekommen, auf denen steht, was eine Portion ausmacht, also welchen Einweiß-, Fett- und Kohlenhydratanteil sie haben soll. Ich habe diesen Zettel auch immer noch in meiner Küche hängen, orientiere mich daran und wiege alles ab – weil ich es noch nicht anders hinbekomme“, sagt sie im Interview.

Dieser Zettel hängt inzwischen in ihrer eigenen Wohnung im Waldstraßenviertel. Dorthin ist Melanie Apitzsch gezogen, nachdem sie die Beziehung zu ihrem Freund im Frühjahr 2019 beendete und aus der gemeinsamen Wohnung auszog. Parallel dazu galt es für sie, die Abschlussprüfungen in ihrer Ausbildung zur Immobilienkauffrau zu absolvieren. „Die habe ich alle gemeistert und wurde von meinem Ausbildungsbetrieb übernommen.“

Melanie Apitzsch als Teilnehmerin der DM 2011 in Kassel. Foto: Jan Kaefer (Archiv)
Melanie Apitzsch als Teilnehmerin der DM 2011 in Kassel. Foto: Jan Kaefer (Archiv)

Wenige Tage vor dem Interview konnte sie dort sogar einen unbefristeten Arbeitsvertrag unterschreiben. „Das ist eine große Erleichterung, über die ich sehr glücklich bin. Ich fühle mich in der Firma richtig wohl. Meine Kollegen sind Freunde und Familie geworden. Es ist für mich ein neues Kapitel: Im Berufsleben stehen, alleine wohnen und das Leben alleine bewältigen. Das ist eine echte Herausforderung, die ich aber bewältigen werde.“

Und dann ist da ja noch der Sport. Für die ehemalige Leichtathletin ist aktive Bewegung immer ein Teil ihres Lebens geblieben. Während der letzten fünf Jahre hatte sie diesbezüglich verschiedene Dinge ausprobiert. Eine Zeit lang hatte sie sich dem Leipziger Bootcamp angeschlossen, weil es eine gute Erfahrung war, nicht mehr alleine trainieren zu müssen.

Außerdem engagierte sich Apitzsch in ihrer Firma als Initiatorin regelmäßiger gemeinsamer sportlicher Betätigung. Sie machte mit selbst geschriebenen Trainingsplänen ihr Kollegium fit, was dort richtig gut ankam. Als Team bewältigten sie 2017 den Firmenlauf, brachten 2018 eine Fahrradtour auf die Reihe und haben 2019 sogar die harten 9 Kilometer des Cross de luxe gerockt.

Zudem begann sie wieder mit regelmäßigem Lauftraining und arbeitete auf den Leipziger Halbmarathon 2019 hin. Die Vorbereitung verlief vielversprechend. „Doch dann hat mir mein Körper wieder die Grenzen aufgezeigt, denn pünktlich zum Halbmarathon lag ich mit einer fetten Nasennebenhöhlenentzündung im Bett und konnte nicht an den Start gehen.“ Diese Problematik, hatte Apitzsch bereits während ihrer aktiven Zeit immer wieder ausgebremst.

Auch deshalb war sie in der Vergangenheit bei Deutschen Meisterschaften oft nur Zuschauerin gewesen. Zur diesjährigen Hallen-DM in der Arena Leipzig war sie ebenfalls im Publikum zu finden. Zumindest für einen Wettkampftag und mit sehr gemischten Gefühlen.

„Ich wusste, dort werde ich Leuten begegnen, die ich sehr lange nicht gesehen habe. Doch die Frage war: Will ich sie überhaupt wiedersehen? Welche Gefühle kommen dann in mir hoch? Und was löst es aus, wenn ich da unten die Sportler rennen sehe, mit denen ich selbst damals schon Rennen gelaufen bin? Wo stehen die jetzt, und wo könnte ich heute stehen?“

Trotz dieser mentalen Belastung hat sie ihren Besuch nicht bereut. „Es war schön, dieses Sportgefühl zu empfinden, weil man ja doch mitfiebert. Und es motiviert auch dazu, selbst wieder bestimmte Dinge anzugehen. Einigen Personen bin ich bewusst aus dem Weg gegangen. Aber ich habe auch einige alte Trainingskameraden wiedergetroffen, zu denen der Kontakt im Laufe des Jahres wieder aufgefrischt werden konnte. Wir haben sogar eine Reunion mit ein paar Leuten aus der alten Trainingsgruppe gestartet.“ Sie selbst läuft inzwischen aber nur noch, wenn sie wirklich Lust darauf hat. „Da habe ich mittlerweile ein gesundes Maß gefunden.“

Melanie Apitzsch hat auch in den vergangenen fünf Jahren große Herausforderungen bewältigt, und an der einen oder anderen Baustelle herrscht weiterhin Betrieb. „Wie sagt man so schön: Es ist kein Schritt zurück, sondern ich nehme nur Anlauf!“, bleibt die 27-Jährige optimistisch. „Mein kurzfristiges Ziel ist die eigene Zufriedenheit. Denn auch wenn das vielleicht kitschig klingt: Du kannst noch so viel Geld und materielle Dinge haben, aber wenn du selbst unglücklich bist, ist es doch blöd.“ Wer könnte ihr da widersprechen.

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Die neue Leipziger Zeitung Nr. 79: Von Gier, Maßlosigkeit, Liebe und Homeschooling in Corona-Zeiten

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