Es ist Freitagabend und es ist mal wieder Länderspiel in Leipzig. Ich war seit 2009 bewusst bei keinem Länderspiel mehr und wäre wohl, wenn ich meinen Kindern nicht das Stadion hätte zeigen wollen, auch diesmal nicht gegangen. Nach dem Spiel war klar: Es wird wohl wieder mindestens dreizehn Jahre dauern, bis ich mir wieder ein Länderspiel in Deutschland anschaue.
Dies hat jedoch weniger mit der fußballerischen Qualität zu tun, damit kann ich leben, es ist viel mehr das zu Recht oft belächelte Länderspielpublikum zum Fremdschämen.
Ungarn ist der Gegner an diesem Tag. Mal wieder kein klangvoller Name, aber die sportliche Brisanz ist immerhin gegeben, denn der Tabellenführer der noch vergleichsweise jungen Nations League heißt Ungarn. In Leipzig hat Deutschland in acht Spielen achtmal gewonnen, unter anderem gegen die „großen“ Fußballnationen Kamerun, Israel, Georgien und Liechtenstein.
Hansi Flick hat als Bundestrainer noch nie verloren. Allein diese Serien scheinen den gemeinen Zuschauer in Siegessicherheit zu wiegen und dann heißt der Gegner auch noch Ungarn – nicht für die Weltmeisterschaft qualifiziert, der 37. der Weltrangliste …
Ins Stadion zu kommen, ist eine Stunde vor Anpfiff kein Problem. Die Security ist entspannt und hilfsbereit, vereinzelt finden sich ein paar Fans zum Grölen zusammen. Als wir bei unseren Plätzen vis-a-vis zum Auswärtsblock ankommen, bleibt noch genügend Zeit für die Kinder, das bunte Treiben um sie herum zu beobachten. Geboten wird einiges.
Gleich mehrere Menschen filmen sich, die Kamera direkt vor dem Gesicht, wie sie unseren Block – immerhin direkt vor der Eckfahne – betreten. Nur mit Mühe finden sie gleichzeitig ihre Plätze und verpassen keine Stufe. Das neue Medienformat Stadionvlogs scheint auch beim Länderspiel Zuschauer zu animieren, sich bei so normalen Dingen wie Treppenlaufen, Bier tragen oder Hinsetzen zu filmen. Die meisten finden ihren Vlog sicher auch spannender als das Spiel.
Möglichkeiten, dieses Verhalten in Länge auszuwerten, gab es wenig, denn das nächste Unheil drohte. DJ Teddy-O, fleischgewordenes Problem des Nationalmannschafts-Images wurde vom Stadionsprecher angepriesen, als wenn es Weltfrieden gäbe. Als wäre diese nervtötende Werbung nicht schon genug gewesen, legte Teddy-O danach auch noch auf.
Die Stadionregie war so „nett“, die Musik so laut aufzudrehen, dass ein Gespräch nur noch in Anfeuerungsrufen möglich war. Die Frage, wer jetzt genau einen DJ in dieser Lautstärke brauchte, blieb freilich unbeantwortet.
Während Teddy-O versuchte, sein Dasein zu rechtfertigen, was ihm nicht gelang, setzten sich vor uns drei Ungarn. Offenbar eine Mutter mit ihren zwei Söhnen im fortgeschrittenen Teenager-Alter.
Davor saßen ein paar Jungs aus Niedersachsen, die während des Spiels versuchten, ihre eigenen Anfeuerungsrufe zu kreieren und sich dann, mehrmals umdrehend, kopfschüttelnd wunderten, dass hier partout niemand mitsingen möchte. Getoppt wurde das ganze nur von einem Paar Richtung 60, links neben den Ungarn, die in der 70. Minute „Wir wollen euch kämpfen sehen!“, skandierten.
Nun bin ich etwas feinfühliger, was Kommentare während des Spiels angeht. Ohne Sitzplatzbindung wechsle ich während eines Spiels auch meinen Standort, um dort zu sein, wo nicht unrealistische Erwartungen sowie unkonkrete wie sinnlose Befehle an die Spieler verteilt werden („Lauf doch mal schneller!“ – wenn der Pass schlecht ist, „Du spielst den ganzen Tag Fußball!“ – wenn der Schuss übers Tor geht, „Knall den Ball nach vorn!“ – wenn noch die halbe Mannschaft im Abseits steht!).
Mit zunehmender Spieldauer fand ich das Spiel sogar besser als die Menschen um mich herum. Aber zurück zum Stadionsprecher. Nach einer eher ereignisarmen ersten Halbzeit, die die Hoffnungen vieler auf einen Kantersieg schon getrübt hatte, kündigte der Stadionsprecher erneut Großes an. Ein Lied für die Freiheit. „Ihr kennt es alle, lasst es uns gemeinsam singen.“
Kurz darauf kam Westerhagens „Freiheit“ – natürlich in der Live-Version, die zumindest ein mitsingendes Publikum vorgaukelt – aus den Lautsprechern, dazu die Flagge der Ukraine auf der Leinwand. Nun bin ich ziemlich unverdächtig, kein Verfechter der Unterstützung für die Ukraine zu sein. Mehr fehl am Platz als hier war aber in letzter Zeit nur Armin Laschets Lachen im Ahrtal.
Der negative Höhepunkt war damit aber noch nicht erreicht. Die Ungarn vor uns freuten sich über jede gelungene Aktion, monierten auch nicht gegebene Freistöße. Ich nenne es mal fußballfantypisches Verhalten. Leider war das ab einer bestimmten Tankfüllung den Personen in ihrem Umfeld immer weniger recht.
Als die Ungarn einen Freistoß forderten, fing der Nachbar, der bis dato die Mutter dauernd auf Englisch zugelabert hat, an, den Jungs zu drohen, sie sollten die Klappe halten, die Jungs vor ihnen drehten sich um und wurden handgreiflich. Die Mutter war auf einmal eine „Hure“.
Als ich dazwischenging und sagte, die Ungarn schauen doch einfach nur Fußball, forderte mich der Nachbar auf, ich solle das Maul halten und mich setzen. Das wiederholte er ungefähr fünfmal und hatte dabei Glück, dass er nicht nach hinten oder vorn umgekippt ist, voller waren bisher nur die Züge im 9-Euro-Ticket-Sommer. Wenig später erzielte Deutschland den vermeintlichen Ausgleich (Abseits!) und beim Jubeln wurden die Jungs vor den Ungarn wieder handgreiflich.
Wieder ein kleines Handgemenge und diesmal die Frage an mich, ob ich denn überhaupt Deutscher sei. Erst als ein Mann hinter mir schrie, die Jungs sollen endlich „ihr Maul halten und Fußball gucken“ war die Diskussion beendet – wenn auch widerwillig. Die Ungarn saßen fortan verschüchtert vor mir, bedankten sich wenig später für die Verteidigung und jubelten am Ende nur zaghaft.
Wir suchten mit Abpfiff schnell das Weite. Bloß weg hier. Auf dem Rückweg hatte ich einige Fragen meiner Kinder zu beantworten. Die Frage: „Wann gehen wir mal wieder zu einem Länderspiel?“ konnte ich ziemlich klar beantworten.
„Schlechter als das Spiel: Länderspielpublikum in Leipzig – Ein Erlebnisbericht“ erschien erstmals am 30. September 2022 in der aktuellen Printausgabe der Leipziger Zeitung (LZ). Unsere Nummer 106 der LZ finden Sie neben Großmärkten und Presseshops unter anderem bei diesen Szenehändlern.
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