Seit er acht Jahre alt ist, zieht es Alexander Mennicke regelmäßig zu Chemie. Die Heimspiele seiner Grün-Weißen verfolgt der heute 35-Jährige immer vom Norddamm aus. Dort, auf der hoch aufragenden Tribüne, sorgt die Ultra-Gruppe „Diablos Leutzsch“ für Stimmung im Alfred-Kunze-Sportpark (AKS). Mennicke, der dort nur „Menne“ genannt wird, gehört seit 20 Jahren dazu und ist einer der „Capos“ – also Anstimmer für die Fangesänge. Doch sein Engagement für den Fußball und die BSG Chemie endet bei Weitem nicht mit dem Schlusspfiff.

Im vergangenen Jahr feierte der Verein den 100. Jahrestag der Eröffnung des Alfred-Kunze-Sportparks. Dieses Jubiläum wurde mit zahlreichen Veranstaltungen gewürdigt – soweit es Corona zuließ. Das öffentlichkeitswirksamste Spektakel in diesem Rahmen war die Ausstellung „Im Flutlicht – Historische Fotografien und zeitgenössische Kunst“ im Museum der bildenden Künste (MdbK) Leipzig.Den organisatorischen Hut nicht nur dafür, sondern für das gesamte Projekt „AKS100“, hatte sich Alexander Mennicke aufgesetzt. Nun setzen er und seine Mitstreiter/-innen dem Stadion-Geburtstag noch das Sahnehäubchen auf: Ein rund 500 Seiten dickes Buch steht kurz vor der Fertigstellung und wird voraussichtlich zu Beginn des kommenden Jahres erscheinen.

Dicker als gedacht

„Ich denke, dass es ein sehr besonderes Buch wird, ein Stadionbuch, das es in dieser Form noch nicht gegeben hat“, kündigt „Menne“ im Interview mit der Leipziger Zeitung (LZ) an. Eigentlich sollte das Werk bereits frisch gedruckt unter den Weihnachtsbäumen der Fußballfans liegen können, doch daraus wird wohl nichts – allerdings aus gutem Grund:

„Als wir vor zwei Jahren mit dem Buch angefangen haben, hatten wir mit 250–300 Seiten geplant. Es hat sich dann aber gezeigt, dass es so viele Sachen gibt, die noch nicht aufgearbeitet sind – Sachen, mit denen man von der Quellenlage her gar nicht gerechnet hätte. Um diesen Erkenntnissen gerecht werden zu können, wird das Buch nun dicker und zögert sich aber auch noch etwas hinaus. Wir haben einen qualitativ hohen Anspruch, und daher soll möglichst alles rein.“

Die Leipziger Zeitung, Ausgabe 96. Seit 29. Oktober 2021 im Handel. Foto: LZ

Insgesamt neun Leute haben an dem Buch mitgeschrieben – und zur Hauptredaktion gehören mit Markus Cottin und Friedemann Meißner auch zwei Historiker, die sich durch den Dschungel der Archive gekämpft haben. Das Ergebnis wird aber keine bloße Aneinanderreihung historischer Fakten sein, wie Mennicke, der studierter Kulturwissenschaftler ist, unterstreicht. „Uns ist es extrem wichtig, dass wir das Stadion nicht nur als Bauwerk oder Sportstätte sehen, sondern als soziokulturellen Raum. Denn der AKS ist mehr als ein Stadion, das ist die Essenz dieses Buches.“

Daher wird es inhaltlich auch damit beginnen, das Viertel und die Stadt aus politischem und sozialem Blickwinkel zu betrachten. „Das Stadion ist sehr abhängig gewesen von Leutzsch und der Arbeiterkultur – und auch von den politischen Systemen: Wir hatten die Weimarer Republik, den Nationalsozialismus, die DDR und jetzt das vereinigte Deutschland. Entsprechend gab es Einflüsse von außen auf das Stadion. Gleichzeitig hat das Stadion in den Systemen aber nach außen auch eine Wirkung gehabt.“

An den Überblick über die Kulturgeschichte schließt sich das Kapitel zur Baugeschichte des AKS an – das längste des gesamten Buches. Denn über 100 Jahre gibt es viel zu berichten. „Unsere beiden Historiker haben wirklich enorm viel Archivarbeit geleistet. Etwas überspitzt könnte man sagen, dass sie sogar herausbekommen haben, wer im Vereinshaus die Schrauben festgezogen hat.“

Kurze Stadion-Historie

Der Bau hatte 1919 begonnen – ein Jahr später war bereits Eröffnung. Damals hatte es drei gleichwertige Spielfelder gegeben, alles ebenerdig und ohne Traversen. 1925 kam das Vereinshaus hinzu, in dem die BSG Chemie heute unter anderem ihre Geschäftsstelle unterhält. Die ersten leichten Wallaufschüttungen wurden 1935/36 notwendig, weil es beim TuRa Leipzig ein höheres Zuschaueraufkommen gab als bei den vorherigen Nutzern.

Eine interessante Geschichte hat auch die noch heute stehenden Holztribüne zu erzählen. Ursprünglich war sie nämlich 1934 im (!) Elsterbecken, nördlich der Landauer Brücke (Hans-Driesch-Straße), für das Regatta-Publikum errichtet und genutzt worden. Nach dem Krieg, im Jahr 1948, wurde diese Tribüne von der ZSG Industrie abmontiert und eingelagert. Das war damals nicht so ganz legal, und die Genehmigung wurde erst im Nachhinein „durch die Hintertür“ eingeholt. Aber: 1949 konnte das gute Stück schließlich im Leutzscher Stadion wieder aufgebaut und zu neuem Leben erweckt werden. Außerdem wurden auch die Zuschauer-Wälle erhöht.

Chemie-Fan und Buchautor Alexander „Menne“ Mennicke. Foto: Philipp Kirschner
Chemie-Fan und Buchautor Alexander „Menne“ Mennicke. Foto: Philipp Kirschner

In den 1950er Jahren wurde damit begonnen, das bis dahin noch bewaldete nördliche Areal zu erschließen. Es gab sogar den Plan, dort ein neues Stadion zu bauen. Davon zeugt auch jetzt noch das große Wall-Oval um die Plätze direkt hinter dem Norddamm. Doch das Vorhaben wurde fallengelassen, als mit der Strukturreform der DDR-Sportführung 1954 beschlossen wurde, dass Chemie zum Trägerbetrieb Halle-Leuna zu gehören hat, und damit in Leutzsch nur noch Bezirksliga-Fußball gespielt wurde.

Daher schlossen sich die Spieler lieber dem neuen SC Lokomotive an, der im Stadion des Friedens spielte. Nach erneuten Umstrukturierungen sowie dem überraschenden DDR-Meistertitel 1964 wurde der AKS zwischen 1966 und 1968 ausgebaut und mit neuen Traversen versehen. Er nahm dann die Gestalt an, die auch heute noch Bestand hat, denn nun wurde auf den unteren Norddamm aus Kriegsschutt der obere Abschnitt aufgepflanzt. Ab 1968 konnte wieder ganz regulär im Leutzscher Holz Fußball gespielt werden.

Das Buch wird sich ausführlich den einzelnen Patchwork-Abschnitten im Stadion widmen. Es wird auch die Nebenplätze und weiteren Gebäude beleuchten und von Bau-Utopien berichten, die niemals umgesetzt werden konnten.

Meister in Beton

Ein eigenes Kapitel bekommt auch die Beton-Mannschaft spendiert, die rechts neben der Tribüne zu finden ist und in überlebensgroßen Skulpturen die Meister-Elf von 1964 darstellt. „Was viele vielleicht nicht wissen ist, dass der Künstler Günter Schumann ursprünglich eine Holzmannschaft angefertigt hatte“, erklärt Alexander Mennicke.

„Diese wurde 1974 auf einer Ausstellung in Leipzig gezeigt und ist dann 1976 durch die DDR gereist, unter anderem nach Berlin und Rostock. Erst Jahre später hat er dann die Beton-Mannschaft daraus gemacht. Dafür wurden Formen angefertigt, die mit Beton ausgegossen wurden. Lange stand diese Mannschaft dann beim Künstler in Zwenkau, bevor sie 1999 nach Leutzsch gekommen ist.“ Auch interessant: Es existiert noch ein zweiter Abguss. Zu finden ist dieser im Buchheim Museum im bayrischen Bernried am Starnberger See.

Wer in den Beton-Teams allerdings noch fehlt, ist Meister-Trainer Alfred Kunze. Künstler Schumann hatte den Coach ursprünglich gar nicht mit angefertigt und ihn erst vor etwa 10–15 Jahren nachträglich als Holzfigur hergestellt, weil er immer wieder von Leuten darauf angesprochen worden war. Der große Wunsch der BSG Chemie ist es nun, einen Betonabguss der Kunze-Figur zum Rest des Teams stellen zu können. Das Vorhaben scheiterte bisher sowohl an den knappen Zeitressourcen als auch an den technischen Möglichkeiten der Umsetzung.

Wie viele Siege, wie viele Niederlagen hat der AKS in Leutzsch über seine 100 Jahre hinweg wohl erlebt? Foto: Jan Kaefer
Wie viele Siege, wie viele Niederlagen hat der AKS in Leutzsch über seine 100 Jahre hinweg wohl erlebt? Foto: Jan Kaefer

Fans, Frauen, große Spiele

„Dann wird es ein Kapitel geben, das sich mit den Fans auseinandersetzt – mit der Fan-Geschichte, aber auch den Maßnahmen gegen die Fans. Also welche Rolle hat die Polizei gespielt, welche Rolle hat die Stasi gespielt, welche Maßnahmen gab es, um die Fans einzuhegen? Wie haben sich die Fans selbst entwickelt?“, zählt „Menne“ auf.

Ein weiteres Kapitel befasst sich mit der Geschichte der Frauen im Stadion und welche Rolle sie hatten, sowohl sportlich als auch aus Fansicht. „Es gibt Zahlen aus der Forschung, die davon ausgehen, dass vor dem Krieg und auch direkt nach dem Krieg ungefähr 10 Prozent des Publikums Zuschauerinnen waren. Da liegt aber vieles im Graubereich, denn es gibt dafür keine Zeitzeuginnen. Ab den 1970ern/1980ern wird es konkreter, durch Zeitzeuginnen, die entweder für Chemie gespielt haben oder auf den Rängen präsent waren. Diese wurden zu ihren positiven wie negativen Erfahrungen befragt.“

Zudem widmet sich das Buch den beiden Namensgebern des Stadions: Georg Schwarz und Alfred Kunze. Bei Kunze gibt es vor allem im Zusammenhang mit dessen NSDAP-Zugehörigkeit noch offene, nicht abschließend zu klärende Fragen. „Es gibt die Erklärung seiner Familie, dass es nötig war, damit er seinen Lehrerberuf weiter ausüben konnte“, weiß Mennicke. „Jetzt ist es am Verein selbst bzw. an der Anhängerschaft, ob sie darüber einen Diskurs führen möchten. Man muss ja auf jeden Fall einen Umgang damit finden.“

Und schließlich darf auch der sportliche Blick auf die größten Spiele im AKS nicht fehlen. Ganz vorne dabei sind hier das Relegationsrückspiel gegen Union Berlin im Jahr 1984, die Aufstiegs-Relegation gegen den FC Schönberg im Jahr 2003 und natürlich auch die beiden DFB-Pokalspiele gegen Regensburg und Paderborn von 2018. Die jedenfalls waren für Chemie-Fan „Menne“ ganz persönliche Höhepunkte.

„Ich habe hoffentlich noch nicht zu viel vom Buch verraten, damit die Spannung ein bisschen erhalten bleibt“, sagt er zum Abschluss augenzwinkernd – und hofft, dass das Werk möglichst bald in Druck gehen kann. Die Einnahmen aus dem Verkauf kommen – natürlich – dem AKS zugute und sollen mithelfen, das langersehnte feste Flutlicht errichten zu können.

„Ein Stadionbuch, das es so noch nicht gegeben hat: Chemie-Ultra Alexander Mennicke setzt dem Leutzscher AKS ein Denkmal“ erschien erstmals am 29. Oktober 2021 in der aktuellen Printausgabe der LEIPZIGER ZEITUNG. Unsere Nummer 96 der LZ finden Sie neben Großmärkten und Presseshops unter anderem bei diesen Szenehändlern.

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