5.291 Vereinsmannschaften hatten im Jahr 1936 versucht, den Tschammer-Pokal zu gewinnen. Dem VfB Leipzig, dem ersten deutschen Fußballmeister, war es sensationellerweise mit einem Endspielsieg gegen den FC Schalke 04, der damals besten deutschen Vereinsmannschaft, gelungen. Der VfB, zu der Zeit gerade mal fünftbeste Mannschaft in Sachsen, räumte fünf Gaumeister aus dem Weg und schlug am 3. Januar 1937 den Deutschen Meister von 1934 und 1935. Ein Gedenken an diese Leistung gibt es in der Stadt nicht.
Die fetten Jahre des VfB Leipzig waren längst vorbei, als die Schützlinge von Heinrich Pfaff nach Berlin zum Endspiel des Tschammer-Pokals reisten. Gerade mal 5. ist die Truppe dieses Jahr geworden – in der Gauliga Sachsen. Da das Deutsche Reich keine reichsweite Liga kannte, waren die Gauligen automatisch die höchsten Ligen, aber von einem Endspiel um die Deutsche Meisterschaft war die Truppe trotzdem so weit entfernt wie der HSV heute von solider Vereinsarbeit. Stellenweise spielte der VfB sogar gegen den Abstieg. Nach dem Ersten Weltkrieg war es schlicht nicht gelungen, eine ähnlich starke Mannschaft aufzubauen, wie es die Jungs um Heinrich Riso und später auch Camillo Ugi gewesen waren. Vier Spieler der Meistermannschaft von 1913 blieben gar im Krieg.
Kurzum: Der Tschammer-Pokal, benannt nach seinem Erfinder, dem NS-Sportfunktionär und Reichssportführer Hans von Tschammer und Osten, lief eher unter dem Motto: Mal sehen was geht. Und schon in der zweiten Partie der Hauptrunde wurde es eng. Der alte Rivale Olympia Leipzig wurde gerade so mit 2:1 bezwungen. Mit einem anschließenden Freilos erreichte die Mannschaft von Heinrich Pfaff kampflos die Schlussrunde des erst zum zweiten Mal ausgetragenen Tschammer-Pokals, dessen Erfinder übrigens Profifußball unter allen Umständen verhinderte.
Die VfB-Kicker gingen also für gewöhnlich arbeiten oder studierten. In der Schlussrunde hatten sie fortan nur noch überregionale Gegnerschaft, schalteten den 1. SV Jena – Vorgänger des FC Carl Zeiss Jena – locker mit 5:0 aus und besiegten auch Vorwärts Rasensport Gleiwitz im Wiederholungsspiel mit 3:0. So langsam hatten auch die Leipziger Fußballfans den Traum von einer Pokalsensation auf dem Schirm, auch wenn der Club gerade mal im Achtelfinale der Schlussrunde stand. 4.000 kamen zum 2:0-Sieg gegen den Berliner SV 1892, den Gaumeister Berlin.
Über die Stationen VfB Peine und Wormatia Worms, die nach Siegen gegen Eintracht Frankfurt und die Offenbacher Kickers auf dem besten Wege waren, erneut Südwestmeister zu werden, erreichte der VfB nach Siegen über insgesamt vier Gaumeister das Finale. Andere Teilnehmer wie der FC Bayern München, SV Polizei Lübeck, MSV von der Goltz Tilsit, MSV Cherusker Görlitz, Werder Bremen, 1. FC Nürnberg oder Viktoria Stolp hatten teilweise schon zeitig die Schlussrunde verlassen.
Die wundersame Reise des VfB führte letztlich bis nach Berlin, in das Olympiastadion, das erstmals Schauplatz des nationalen Pokalendspiels war. Die Olympischen Spiele hatten die Verlegung des Endspiels in das Jahr 1937 notwendig gemacht, aber eben auch den für den VfB positiven Nebeneffekt, dass die Reisestrapazen einmal mehr eher gering waren und zudem 4.000 Fans in fünf Sonderzügen mitreisen konnten. Die Königsblauen waren ein 1:1000-Favorit auf den Gewinn des Tschammer-Pokals.
Schon im Vorjahr stand die Mannschaft, die den berühmten „Schalker Kreisel“ zelebrierte, im Endspiel und scheiterte knapp am 1. FC Nürnberg. Kuzorra, Szepan und Co. waren 1934 und 1935 Deutscher Meister geworden, 1936 immerhin Dritter. Die Knappen hatten eine ganz andere Entwicklung genommen als der erste deutsche Rekordmeister. In der Schlussrunde schalteten sie nicht nur die SpVgg Röhlinghausen, sondern auch den VfB Stuttgart, Werder Bremen und den FC Schweinfurt aus. Fünf aktuelle Nationalspieler ließ Schalke-Trainer Hans Schmidt im Endspiel aufs Feld. Der VfB hatte mit Kurt Schreppen wenigstens einen sächsischen Gau-Auswahlspieler – allerdings verletzt auf der Tribüne.
Aber schon vor 80 Jahren, am 3. Januar 1937, war Fußball nicht rational zu erklären
Der VfB vermieste den Westdeutschen mit Kampf und Einsatz die Lust am eigenen, heute auch als One-Touch-Football bekanntem, Spiel und ging vor 70.000 Zuschauern nach einem Fehler von Schalke-Torwart Mellage durch Jakob May in Führung. Nach dreißig Minuten traf sogar noch Herbert Gabriel, der erst während der Saison vom unterklassigen Club Arminia Leipzig zum VfB gewechselt war.
Schalke verkürzte vor der Pause durch Ernst Kalwitzki auf 1:2. Doch Bruno Wöllner im VfB Tor und die überragenden Eric Dobermann und Erich Thiele ließen in der VfB-Defensive fortan keine Luft mehr an den Sieg. Nach drei Meisterschaften hatte der Club aus Leipzig-Probstheida nun auch einen nationalen Pokal gewonnen. Schalke verlor sein zweites Pokalfinale in Folge und sollte erst ein Jahr später belohnt werden.
Das Gedenken an den grandiosen Erfolg fiel über die 80 Jahre stets bescheiden aus. Der DDR-Fußball kannte die Historie vor dem Zweiten Weltkrieg nicht. Als der VfB Leipzig 1991 zu neuem Leben erweckt wurde, waren viele Spieler schon verstorben und andere zu alt, um sich aktiv für die Erinnerung einzusetzen. Für sie arbeitet seit einigen Jahren Fußballhistoriker André Göhre an der Aufarbeitung der Vorkriegsgeschichte des VfB Leipzig.
Göhre hat viel zu tun, die Spielernamen der damaligen Zeit kennen nur Menschen, die Gefallen an vergilbten und verstaubten Geschichten haben. Weder gibt es auf dem Vereinsgelände des 1. FC Lok, der sich demnächst wieder in einer Traditionslinie mit dem VfB befinden will, eine entsprechende Erinnerung an den Sieg, noch sind Spieler Namensgeber für Sportgebäude oder Straßen geworden. Es ist schlicht zu wenig über sie bekannt. 2016 feierte der 1. FC Lok 50 Jahre Namensgebung und kehrte so einige Geschichten aus seiner gewiss glorreichen Geschichte hervor. 80 Jahre nach Berlin scheint nun eine Beschäftigung mit den sportlichen Erfolgen des VfB Leipzig dringender. Erst recht, wenn bald der Meisterstern des Clubs auf die Probstheidaer Brust kommen soll.
Der lange Weg zum Pokalsieg:
19.04.1936 – 1. Hauptrunde, SVgg. 07 Meerane – VfB 1:5 (0:2)
03.05.1936 – 2. Hauptrunde, VfB – Olympia Leipzig 2:1 (1:1)
14.06.1936 – 1. Schlussrunde, VfB – 1. SV 03 Jena 5:0 (1:0)
28.06.1936 – 2. Schlussrunde, Vorwärts-Rasensport Gleiwitz – VfB 2:2 (2:2,1:0) n.V.
23.08.1936 – 2. Schlussrunde, Wiederholungsspiel, VfB – Vorwärts-Rasensport Gleiwitz 3:0 (1:0)
06.09.1936 – Achtelfinale, VfB – Berliner SV 1892 2:0 (0:0)
25.10.1936 – Viertelfinale, VfB Peine – VfB 2:4 (1:1)
22.11.1936 – Halbfinale, VfB – Wormatia Worms 5:1 (3:1)
03.01.1937 – Finale in Berlin, VfB – FC Gelsenkirchen-Schalke 04 2:1 (2:1)
9 Spiele, 8 Siege, 1 Unentschieden, 0 Niederlagen, 30:8 Tore, 95.000 Zuschauer
Die Endspiel-Aufstellung des VfB Leipzig:
Bruno Wöllner – Erich Dobermann, Rudolf Große – Gerhard Richter, Erich Thiele, Walter Jähnig – Hans Breidenbach, Martin Schön, Jakob May, Georg Reichmann, Herbert Gabriel, Trainer: Heinrich Pfaff
Die 17 eingesetzten Spieler (Spiele/ Tore):
Martin Schön (9/7), Erich Thiele (9/6), Hans Breidenbach (9/1), Bruno Wöllner (9/0), Erich Dobermann (9/0), Gerhard Richter (8/0), Rudolf Große (7/3), Jakob May (6/4), Meyer (6/3), Rammler (6/2), Walter Jähnig (6/0), Fritz Hausmann (6/0), Kurt Schrepper (4/1), Georg Reichmann (3/1), Peter Holst (2/0), Herbert Gabriel (1/1), Belger (1/0), 1 Eigentor des Gegners.
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