Am 1. September stehen in Sachsen wichtige Landtagswahlen an, bei denen das politische Kräfteverhältnis im Freistaat auf dem Prüfstand steht. Besonders herausfordernd wird die Situation für Parteien wie Die Linke und die Grünen, die möglicherweise Schwierigkeiten haben könnten, die Fünfprozenthürde zu überwinden. In diesem Kontext erwägen viele Wähler, ob taktisches Wählen eine Strategie sein könnte, um sicherzustellen, dass auch progressive und zukunftsorientierte Stimmen im Landtag vertreten sind.

Um mehr darüber zu erfahren, wie taktisches Wählen funktionieren kann und welche Auswirkungen es haben könnte, haben wir den Politologen Dr. Daniel Schmidt um seine Einschätzungen gebeten.

Wie würden Sie den Begriff ‚taktisches Wählen‘ erklären und welche Rolle spielt es in den aktuellen politischen Wahlen in Sachsen?

Bei Landtagswahlen in Sachsen hat jeder Wähler zwei Stimmen (und jede Wählerin natürlich auch): Mit der Direktstimme votiert er für eine Person, die in seinem Wahlkreis kandidiert, und mit der Listenstimme eine Partei. Im Allgemeinen geht man davon aus, dass Bürgerinnen und Bürger informiert zur Wahl schreiten und ihre Stimmen jener Partei bzw. dem Kandidaten in ihrem Wahlkreis geben, von denen sie glauben, dass sie ihre Interessen am ehesten vertreten.

Wer taktisch wählt, richtet seine Wahlentscheidung zusätzlich danach aus, welche Chancen eine bestimmte Partei etwa hat, überhaupt über die Fünfprozenthürde zu kommen. Oder ob die Möglichkeit besteht, dass die Kandidatin der bevorzugten Partei im eigenen Wahlkreis die meisten Stimmen bekommt – denn nur die Erststimmengewinner bekommen das Direktmandat.

Taktische Wählerinnen und Wähler wählen dann zum Beispiel mit ihrer Erststimme den Kandidaten einer Partei X und mit der Zweitstimme die Partei Y, weil sie wünschen, dass beide Parteien im Landtag vertreten sind oder vielleicht sogar die Regierung bilden. Man nennt das auch Stimmensplitting.

In welchen Wahlkreisen in Sachsen könnte taktisches Wählen besonders wirkungsvoll sein?

Wirkungsvoll im Sinne von, dass die Verhältnisse durchmischt werden, kann taktisches Wählen überall sein. Aufgrund nicht ganz so fester Sozialgefüge und hoher Mobilität würde man taktische Wählerinnen und Wähler eher in Großstädten erwarten als im ländlichen Raum, weil die Parteibindungen auch nicht so fest sind.

Wie funktioniert die Grundmandatsklausel im sächsischen Wahlsystem und warum sind sie für Parteien wie die Linke und die Grünen besonders relevant?

Damit ein Parlament arbeitsfähig ist und die Bildung stabiler Regierungskoalitionen möglich wird, sollten nicht zu viele Parteien im Landtag vertreten sein. Deshalb gibt es in Sachsen (wie im Bund) eine Fünfprozenthürde. Das heißt, Parteien können nur dann Sitze im Landtag bekommen, wenn sie mindestens fünf Prozent der Zweitstimmen gewonnen haben. Direkt gewählte Abgeordnete ziehen aber auf jeden Fall ein.

Und dann gibt es noch diese Regel: Haben die Direktkandidaten einer Partei mindestens zwei Wahlkreise gewonnen, bekommen sie ebenfalls so viele Parlamentssitze, wie es ihrem Zweitstimmenergebnis entspricht. Die Grundmandatsklausel könnte der Linken und den Grünen in Sachsen bei der bevorstehenden Wahl tatsächlich Hoffnung machen, aber natürlich auch noch anderen Parteien wie der SPD, den Freien Wählern usw.

Ich bin selbst eher vorsichtig mit Wahlprognosen, aber manche Experten halten es für möglich, dass diese Parteien am 1. September die fünf Prozent nicht schaffen. Eventuell aber jeweils zwei Direktmandate.

Wie könnte sich das taktische Wählen auf die Wahlergebnisse und die politische Landschaft in Sachsen auswirken?

Wie bei jeder Parlamentswahl können individuelle Entscheidungen – auch in kleiner Zahl – die Anzahl der Parteien, die letztlich im Landtag vertreten sind, und damit Koalitionsoptionen und also auch die Landespolitik der nächsten fünf Jahre beeinflussen. Das gilt natürlich für taktische Wählerinnen genauso wie für ‚nichttaktische‘. Nur wählen muss man!

Gibt es Beispiele aus der Vergangenheit, in denen taktisches Wählen in ähnlichen Kontexten das Wahlergebnis beeinflusst hat?

In den Neunzigerjahren haben die FDP und die Union auf Bundesebene und auch vor einigen Landtagswahlen hin und wieder eine sogenannte Zweitstimmenkampagne aufgelegt und den Wählerinnen und Wählern die Fortsetzung ihrer schwarz-gelben Koalitionen versprochen. Dabei hat die CDU auf Zweitstimmen „verzichtet“ und die FDP auf die Direktmandate.

Und dann erinnere ich mich an die „Gruppe der Fünfzig“, die im Vorfeld der Sächsischen Landtagswahl vor zwanzig Jahren aufgetaucht ist: Das waren Leipziger Studierende, die sich überlegt haben, wie man über Wahlen ein Thema, das ihnen sehr am Herzen lag – Hochschul- und Bildungspolitik nämlich – stark machen könne. Ihrer Ansicht nach hatte damals die SPD die besseren Konzepte in diesem Bereich, und so haben sie unter anderem eine Erststimmenkampagne zugunsten eines SPD-Kandidaten in einem Leipziger Wahlkreis initiiert.

Ob es daran lag oder nicht, weiß man nicht: Aber am Ende hatte der Kandidat mit sehr knappem Vorsprung gewonnen. Und aufgrund der Sitzverteilung im Landtag war die naheliegendste Regierungsmöglichkeit eine Große Koalition, in der die SPD das Wissenschaftsministerium bekam und wenigstens einige ihrer hochschulpolitischen Konzepte umsetzen konnte.

Teil der Kampagne war, dass die „Gruppe der Fünfzig“ vor allem den Leuten, die in jenem Wahlkreis wohnten, klarmachen musste, dass – unabhängig davon, welche Partei sie sonst wählen würden – sie ihre Erststimme dem SPD-Kandidaten geben sollten, wenn sie eine andere Hochschulpolitik haben wollten.

Und was denken Sie: Taktisch wählen oder lieber nicht? Welche Fragen sollte man sich vorher stellen?

Nun ja. Unter Politikwissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern gibt es dazu unterschiedliche Auffassungen. Ich empfehle, dass man sich für jede der beiden Stimmen die Konsequenzen überlegt, Wahlprogramme anschaut sowie die Ziele der Kandidatinnen und Kandidaten aus der eigenen Nachbarschaft oder der eigenen Region kennenlernt. Und diese Ziele dann mit den eigenen Interessen abgleicht.

Danach kann man noch weitere Überlegungen anstellen: Wie viele Parteien sollen im Parlament vertreten sein? Welche Regierungsmehrheit wünsche ich mir? Und wer soll die wichtigen Aufgaben der Opposition übernehmen? Klar ist: Eine individuelle Stimme entscheidet nicht die Wahl, aber sie beeinflusst das Ergebnis – so oder so.

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Dr. Daniel Schmidt hat in Leipzig Politikwissenschaft und Journalistik studiert. Er ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Politikwissenschaft der Universität Leipzig und beschäftigt sich unter anderem mit den Voraussetzungen und Bedingungen von Demokratie, Staat und Politik.

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Der einzige Zweck taktischen Wählens in Sachsen bei dieser Wahl könnte sein, dafür zu sorgen, dass möglichst *viele* Parteien in den Landtag kommen, also möglichst wenige Stimmen “verloren” gehen, weil Parteien an der 5-%-Hürde scheitern.
Falls der “worst case” eintritt und alle Parteien, die zittern müssen, scheitern, und nur 3 Parteien in den Landtag kommen, können wir uns auf unschöne Zeiten mit einer Koalition entweder aus CDU+AfD, CDU+BSW oder gar AfD+BSW “freuen”. Nichts davon kann jemand ernsthaft wollen…

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