Dies ist ein Erfahrungsbericht, der aus Erzählungen heraus entstanden ist. Die Autorin fasst dabei in der Ich-Perspektive verschiedene Gespräche mit der Protagonistin zusammen. Diese Erfahrungen sind individuell und persönlich und stellen keine Beurteilung der Situation in anderen Einrichtungen dar.
„Momentan fehlt in unserer Einrichtung über die Hälfte des Personals. Wir haben verkürzte Öffnungszeiten. Einige Kolleg*innen sind im Urlaub, einige sind krankgemeldet. Oft ist es so, dass eine Erzieherin für eine ganze Gruppe verantwortlich ist. Natürlich ist es nicht immer so, aber das sind die „harten“ Zeiten. Schon seit Corona eigentlich sind fast alle Personen, die hier arbeiten, an der absoluten Belastungsgrenze angekommen.
Es ist so weit, dass man krank wird durch das ständige „Unter Strom stehen“ und sich immer wieder herausnehmen muss – sei es, weil die Anstrengung zu groß ist oder weil man einfach anfällig ist für Viren, Bakterien und Co. Diejenigen, die in diesen prekären Phasen für die Betreuung verantwortlich sind, stehen unter einem enormen Druck. Eigentlich dürfte so nicht gearbeitet werden.
Wir sind ein Integrationskindergarten, das bedeutet, dass einige Kinder einen erhöhten Betreuungs- und Förderbedarf benötigen. Diese Kinder müssten eigentlich intensiv begleitet werden, wir können sie aber manchmal nur „mitziehen“. Oder aber die Betreuung der anderen Kinder leidet darunter. Man kann seiner Aufsichtspflicht gar nicht gerecht werden: Mitarbeitende werden von einer Gruppe in die andere „abgezogen“, hin- und hergeschoben, um irgendwie den Betrieb aufrechterhalten zu können.
Der Betreuungsschlüssel in Sachsen ist einer der schlechtesten in ganz Deutschland. Geht dann eine Kollegin oder ein Kollege in den Urlaub oder meldet sich krank, ist eine bedarfsgerechte Betreuung schlichtweg nicht möglich. Man steht unter Dauerstress, es fühlt sich an, als würden die Kinder zur „Aufbewahrung“ zu uns kommen, für mehr bleibt keine Zeit. Da geht es dann einfach darum, dass niemandem etwas passiert.
Pädagogische Förderung oder individuelle Angebote können kaum angeboten werden, weil wir uns durch die Tagesstruktur schleppen. Manchmal reicht die Zeit nicht, um eine Pause zu machen. Die Nerven liegen blank und die Leidtragenden sind die Kinder. Natürlich bekommen sie den Stress mit.
Wir versuchen alles dafür zu tun, dass es den Kindern gutgeht, aber wie soll eine einzige Person in einer Gruppe von 25 Kindern auf jedes individuell eingehen? Manche von unseren zu betreuenden Kindern neigen dazu, sich von der Einrichtung zu entfernen, man muss sie gesondert im Auge behalten. Bei anderen stoßen wir auf Sprachbarrieren.
Und neben all dem soll man sich abgrenzen und auf die eigene physische und psychische Gesundheit achten. Das funktioniert einfach nicht. Meist, wenn ich in der Arbeit bin, bemerke ich die Belastung gar nicht, da funktioniere ich. Doch am Wochenende wache ich manchmal auf, fühle mich einfach ausgelaugt. Die allgemeine Situation nehme ich mit in die Freizeit.
Man rutscht zum Schutz schnell in den Zynismus – es geht ja nur Weinen oder Lachen. Und man will auch nicht die ganze Zeit jammern. Aber eigentlich habe ich schon Bauchschmerzen, wenn ich auf dem Weg zur Arbeit bin. Und ich will auch nicht „krankmachen“, dann fällt die Belastung auf die Kolleg*innen.
Ich wünsche mir, dass die Lage in den Kindergärten und Betreuungseinrichtungen mehr diskutiert wird, dass das in der Öffentlichkeit präsenter ist. Überall spricht man vom Leherer*innenmangel, den es zweifellos auch gibt, doch wer schaut auf die Vorstufe, auf die Kitas? Die Träger tun viel, das muss man sagen. Es wird sich politisch engagiert. Doch es gibt einfach zu wenige Leute, die die Ausbildung zur Erzieherin oder zum Erzieher absolvieren wollen. Und wer kann es ihnen verübeln, wenn das die Aussichten sind?“
„Die Nerven liegen blank: Erfahrungsbericht aus einer Kindertagesstätte“ erschien erstmals im am 29.09.2023 fertiggestellten ePaper LZ 117 der LEIPZIGER ZEITUNG.
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