Wer in Leipzig oder einem anderen Ort in Sachsen lebt, hat ein höheres Risiko an COVID-19 zu sterben als Menschen in anderen Regionen Deutschlands. Das zeigen Daten aus der zweiten Corona-Welle. Gesundheitliche Ungleichheit gibt es allerdings nicht erst seit der Pandemie.
„In Gegenden, wo es Menschen wirtschaftlich nicht so gutgeht, hatten wir mehr COVID-19-Todesfälle“, fasst Nico Dragano, Professor für Medizinische Soziologie in Düsseldorf, das Ergebnis einer Studie seines Instituts und des Robert Koch-Instituts (RKI) zusammen.Die Wissenschaftler/-innen haben Sterberaten aus der zweiten Welle zusammen mit sozialen Indikatoren betrachtet. Ihre Feststellung: In sozio-ökonomisch benachteiligten Regionen war das Risiko, an COVID-19 zu sterben, bei Männern um das 1,52-Fache und bei Frauen um das 1,44-Fache höher als in wohlhabenden Landstrichen.
Das liege weniger an der Versorgungslage vor Ort. „Wir haben vermutlich nicht im großen Stil Todesfälle gesehen, weil die Versorgung schlecht war, sondern weil Menschen, die sozial benachteiligt sind, oft Risikofaktoren mitbringen“, erklärt Dragano.
„Sie sind häufiger übergewichtig oder vorerkrankt und haben mehr Stress. Das alles bedingt eine schlechte Prognose.“
Strukturelle Benachteiligung macht krank
Level 5 von 5 – dieses Ergebnis erreicht die Stadt Leipzig im bundesweiten Deprivationsindex, den das RKI 2017 mit Daten aus dem Jahr 2012 erarbeitet hat. Eine Region gilt demnach als „hoch depriviert“, wenn dort sozialräumliche Belastungen und Ressourcenmangel die Möglichkeiten der Menschen einschränken, an der Gesellschaft teilzuhaben.
Indikatoren dafür sind beispielsweise geringe Durchschnittseinkommen und Steuereinnahmen, hohe Arbeitslosenquoten und ein hoher Anteil von Menschen ohne Schulabschluss.
Level 5 von 5 steht dabei für höchste Deprivation, Level 1 für die niedrigste. In Sachsen sticht Dresden mit Level 2 hervor. Einzelne umliegende Gemeinden erreichen Level 3. Für die meisten Kommunen sowie auf Kreisebene zeigt der Index Level 4, in einigen 5. Weniger deprivierte Regionen finden sich vor allem in Bayern, Baden-Württemberg und Hessen.
Auch ohne Pandemie besteht dem Index zufolge ein Zusammenhang der Deprivation einer Region mit der Lebenserwartung und den Gesundheitsrisiken der Menschen, die dort leben. Besonders deutlich wird die Ungleichheit demnach bei Krankheiten von Kreislauf-, Atmungs- und Verdauungssystem, Tumorerkrankungen sowie dem Gesundheitsverhalten der Menschen.
Corona macht gesundheitliche Ungleichheit sichtbarer
Anja Knöchelmann, Medizinsoziologin an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, hat schon zu Beginn der Pandemie gewarnt, Corona könne die bestehende Ungleichheit verschärfen. „Die Feststellung ist nicht neu, dass Personen, die strukturell benachteiligt sind, eher versterben“, sagt Knöchelmann, „Kinder, deren Eltern einen niedrigeren Verdienst haben, haben von Anfang an eine geringere Lebenserwartung als Kinder, die in eine Familie mit mehr Einkommen hineingeboren werden.“
Die Pandemie und mit ihr einhergehende Maßnahmen haben dieses Problem laut Knöchelmann deutlicher gemacht. Nicht alle könnten im Homeoffice arbeiten oder ihre Kinder aus der Schule nehmen – Möglichkeiten, mit denen sich privilegierte Bevölkerungsgruppen schützen können.
Auch das Tragen von Schutzmasken sei eine Frage des Privilegs: „Es werden ja nicht einfach Masken zur Verfügung gestellt, oder nur in sehr begrenzter Menge. Wenn Hartz-IV-Empfänger/-innen keine bekommen, haben sie auch ein höheres Risiko, sich anzustecken.“
„Damit zeigt man den Menschen, dass Masken gar nicht so wichtig sind“, meint Knöchelmann, „Wenn sie wichtig wären, würde man sie doch ganz selbstverständlich damit versorgen.“ Gerade in Sachsen und Sachsen-Anhalt gebe es viele strukturell benachteiligte Regionen, in denen sich auch deswegen Falschinformationen verbreiten.
Das Virus mag die Bedingungen, die es selbst schafft
Nicht nur bei Todesfällen, auch bei Corona-Inzidenzen sei ein Zusammenhang mit der regionalen Deprivation zu beobachten, erklärt der Düsseldorfer Medizinsoziologe und Sozialepidemiologe Nico Dragano. Zudem könne man bei Corona von einer „Syndemie“ sprechen, denn die Krankheit ziehe überzufällig häufig weitere Erkrankungen und Gesundheitsprobleme nach sich.
„Wir sehen zum Beispiel, dass Patientinnen und Patienten, die chronisch krank sind oder eine OP benötigen, nicht gut versorgt werden, dass Menschen sich nicht zum Arzt trauen, Belastungen durch Lockdown-Maßnahmen erleben oder Angst haben, den Arbeitsplatz zu verlieren“, sagt Dragano. Das wiederum begünstige, dass das Virus sich verbreitet: „Das mag natürlich eine Bevölkerung, die körperlich schon angeschlagen ist.“ Long COVID könne wiederum dazu führen, dass Betroffene sozial absteigen. Dafür gebe es aber noch keine Studiendaten.
Was fehlt: Kommunikation und Strategie
Die Stadt Bremen hat laut Nico Dragano richtig gehandelt: „Dort wurde ein Projekt mit ganz klassischen Public Health Maßnahmen aufgelegt: Geh in die Community, rede mit den Leuten und finde Lösungen. Das scheint zu funktionieren, wenn man auf die Infektionszahlen und die Impfquote guckt.“
Die Medizinsoziologin Anja Knöchelmann sieht Bremen ebenfalls als Positivbeispiel – aber auch zahlreiche Baustellen, um die strukturellen Probleme anzugehen, durch die gesundheitliche Ungleichheit entstehe. Im Fall der Pandemie sei Kommunikation ein wesentlicher Faktor. „Man muss die Informationen so kommunizieren, dass sie die Menschen erreichen“, meint sie, „Das funktioniert nicht mit dem Gießkannenprinzip.“
Deutschland brauche eine Public Health Strategie, meint Nico Dragano – „eine, die diesen Namen auch verdient. Sie verdient ihn, wenn arme Menschen hier nicht mehr acht Jahre früher sterben als reiche.“
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Es gibt 2 Kommentare
Das stimmt und es wäre interessant, mal genauer zu schauen, warum Leipzig so ein Ausreißer ist. Vielleicht spielt mit rein, dass die strukturellen Bedingungen in der Stadt sich in den letzten fünf bis zehn Jahren ja doch etwas geändert haben, was in den verwendeten Daten aber noch nicht zu sehen ist. Verglichen mit Bremen zum Beispiel hat die Stadt ja keine so besonderen Maßnahmen gegen die Pandemie ergriffen.
Allerdings liegt Leipzig bei den Covid-19 Todesfällen insgesamt bisher leicht unter dem Bundesdurchschnitt (Sachsen ungefähr doppelt so hoch)