Endlich gibt es wieder Bundesmittel zur Reaktivierung stillgelegter Schienenstrecken โ und Sachsen steht vรถllig unvorbereitet da, hat keinen Plan und keine Prioritรคtenliste. Und wird sie wohl auch so schnell nicht bekommen, denn Grรผndlichkeit ginge vor Schnelligkeit, meint Verkehrsminister Martin Dulig (SPD) in seiner Stellungnahme zu einem Antrag der Linksfraktion, den diese Ende Mรคrz gestellt hat.
โDas Votum zur zeitnahen (Re-)Aktivierung von Schienenstrecken ist nachvollziehbar. Der sรคchsische Koalitionsvertrag 2019 bis 2024 stellt aber auf eine gesamtsรคchsische Strategie zur Aktivierung von Schienenstrecken ab. Danach sollen mittels Potenzialanalyse Strecken identifiziert werden, die รผber Potenziale zur Bestellung von Leistungen im Schienenpersonennahverkehr (SPNV) verfรผgen. Vor diesem Hintergrund ist es derzeit nicht mรถglich, auf einzelne Strecken detailliert einzugehen, da dem Ergebnis hier nicht vorgegriffen werden kann und sollโ, erklรคrte Dulig in dieser Stellungnahme zum Antrag der Linksfraktion.Und das, obwohl die Linksfraktion schon drei sehr konkrete Streckenprojekte genannt hatte: die Strecken Pockau-Lengefeld-Marienberg, DรถbelnโMeiรen und NarsdorfโRochlitz.
Und manches wird auch schon sehr konkret, wie der Grรผnen-Landtagsabgeordnete Gerhard Liebscher am 25. Mรคrz in seiner Landtagsrede feststellte. โAuf der anderen Seite braucht es von den Verkehrsverbรผnden das klare Signal, diese Strecken am Ende auch zu bestellen. So wie es der VMS ja schon fรผr Pockau-LengefeldโMarienberg und Meiรen โ Dรถbeln per Beschluss der Verbandsversammlung postuliert hatโ, sagte er.
Aber welcher Verband wird eine Anmeldung signalisieren, wenn er sich unsicher sein muss, dass die Strecke in der Potenzialanalyse รผberhaupt Zuspruch bekommt?
Martin Dulig: โDiese identifizierten Strecken werden dann einer vertiefenden Potenzialanalyse unterzogen, die im Weiteren ebenso als Grundlage fรผr ein Antragsverfahren, z. B. im Rahmen des Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetzes (GVFG), verwendet werden kรถnnen soll. Dabei wird nach dem Grundsatz โGrรผndlichkeit vor Schnelligkeitโ vorgegangen, um keine schnellen Entscheidungen zu treffen, die erheblichen Mitteleinsatz erfordern und nicht die erhofften Ergebnisse bringen. Deshalb sollen diese Potenzialanalysen einen hohen Detaillierungsgrad haben, z. B. mit einem Votum zur verkehrlichen Wirkung, einer Schรคtzung notwendiger Investitionskosten, einer Schรคtzung von Betriebskosten und bestehenden Finanzierungsunterstรผtzungen durch bestehende Fรถrderprogramme des Bundes.โ
Das kann man auch als Misstrauenserklรคrung gegenรผber den Verkehrsverbรผnden lesen, als wรผssten die nicht, wo eigentlich die grรถรten Bedarfe an einer Streckenreaktivierung wรคren. Und durchaus kritisch sah Liebscher, dass Dulig schlicht keinen Liefertermin genannt hat: โIch erwarte beispielsweise nicht, dass die Ergebnisse einer sachsenweiten Potenzialstudie, bei der alle infrage kommenden sรคchsischen Strecken betrachtet werden, uns erst im Jahr 2022 zugehen. Stattdessen bin ich mir sicher, dass erste Einschรคtzungen noch in diesem Jahr getroffen werden kรถnnen. Diesbezรผglich bestรคrke ich gern Minister Dulig, die Weichen entsprechend zรผgig zu stellen, auf deren Basis dann weitergearbeitet werden kann.โ
Wobei Martin Dulig ja auch angedeutet hat, dass es der Bund ist, der hier wieder einmal auf Sicherheit spielt und die Hรผrden fรผr eine Reaktivierung so hoch gesetzt hat, dass allein schon die Beweisfรผhrung, die Strecke kรถnnte sich rechnen, fรผr die Antragsteller heftig ins Geld geht.
โVorgeschaltet fรผr eine Beantragung zur Fรถrderung รผber das GVFG ist das Verfahren der standardisierten Bewertung, mit welchem die Gesamtwirtschaftlichkeit eines Vorhabens ermittelt wird. Auch diese Bewertung kostet pro Vorhaben ca. 600.000 Euro und ist komplett vom Antragsteller zu tragenโ, erklรคrte Dulig.
โDas novellierte Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz erรถffnet zwar neue Mรถglichkeiten, erfordert aber trotzdem erhebliche Ko-Finanzierungsmittel aus dem Landeshaushalt. Damit die Gesamtwirtschaftlichkeit gegeben ist und das Nutzen-Kosten-Verhรคltnis positiv ausfรคllt, muss eine definitive Bestellzusage der zustรคndigen, im Freistaat Sachsen kommunalen SPNV-Aufgabentrรคger รผber mindestens zehn Jahre vorliegen. Eine verbindliche Zusage der zustรคndigen SPNV-Aufgabentrรคger zur zumindest anteiligen Finanzierung dieser zusรคtzlichen SPNV-Kosten aus ihren Budgets liegt der Staatsregierung bisher jedoch nicht vor.โ
Man ahnt schon, dass auch die Verkehrsverbรผnde mit spitzen Stiften rechnen und sich eher zurรผckhalten, so einen Antrag zu stellen. Denn wer kann heute schon sagen, ob sich eine Eisenbahnstrecke in 10 oder 15 Jahren rechnen wird? Diese Ungewissheit kรถnnen nicht einmal die teuren Wirtschaftlichkeitsbewertungen nehmen.
Auch so kann man โ mit dem Denken von Buchhaltern โ die von allen begrรผรte Mobilitรคtswende ausbremsen. Selbst Dulig sagte: โDas Votum zur zeitnahen (Re-)Aktivierung von Schienenstrecken ist nachvollziehbar.โ
Fรผr den klimaschutz- und mobilitรคtspolitischen Sprecher der Linksfraktion Marco Bรถhme jedenfalls geht das alles viel zu langsam.
โDie Bedingungen sind derzeit sehr gut, um stillgelegte Schienenstrecken wiederzubeleben: Der Wunsch nach einem Wiederanschluss besteht vielerorts und der Bund zahlt bis zu 90 Prozent der Kosten. Anders als im Koalitionsvertrag versprochen, bleibt die Staatsregierung allerdings tatenlosโ, erklรคrte er am 25. Mรคrz.
โFรถrdermittel des Bundes wurden bisher aufgrund von Fehldeutungen nicht beantragt, wie jetzt eine Kleine Anfrage zeigte โ andere Lรคnder tun dies bereits. In Sachsen werden im Haushalt reservierte Mittel anderweitig verplant โ etwa fรผr eine zweifelhafte Fernverkehrsanbindung der Stadt Chemnitz. Verkehrsminister Martin Dulig findet immer neue Ausreden, warum man die Strecken Pockau/Lengefeld-Marienberg, Narsdorf-Rochlitz oder Meiรen-Dรถbeln nicht einfach reaktivieren kรถnne, obwohl lรคngst Potenzialstudien und Beschlรผsse der Verkehrsverbรผnde zur Wiederinbetriebnahme vorliegen.โ
Dabei hat er durchaus ein Bild vor Augen, in dem Sachsen รผber ein wieder attraktives Schienennetz verfรผgt, das fรผr viele Menschen den Verzicht aufs Auto wieder denkbar macht.
โWenn Schienenstrecken fรผr den Personenverkehr verfรผgbar gemacht werden, die derzeit gar nicht oder nur fรผr den Gรผterverkehr genutzt werden, kann die Bahn viele Menschen komfortabel und klimafreundlich mobilmachen. Fรผr Menschen mit Mobilitรคtseinschrรคnkungen ist die Bahn oft die einzige Mรถglichkeit, selbststรคndig mobil zu sein und am sozialen sowie kulturellen Leben teilzunehmen. Zudem ist ein Bahnanschluss fรผr viele Orte ein wichtiger Impuls, damit Menschen dort hinziehen oder bleiben sowie um Unternehmen anzusiedeln oder zu halten. Auch fรผr den Tourismus ist die Bahnanbindung einer Region wichtigโ, geht Bรถhme auf den nicht zu unterschรคtzenden infrastrukturellen Effekt ein, der in Sachsen nun einmal auch ein demografischer ist. Wer mรถchte schon in einer Region leben, in der es partout keine Alternative zum Auto gibt?
โAndere Bundeslรคnder, etwa Baden-Wรผrttemberg, machen es vorโ, sagt Bรถhme. โ169 Streckenkilometer wurden seit 1994 in diesem Bundesland wieder in Betrieb genommen, das dortige Verkehrsministerium kรผndigt eine weitere ,Reaktivierungsoffensiveโ an und รผbernimmt Planungs- und Betriebskosten, die nicht รผber Bundesmittel gedeckt werden. Der Freistaat Sachsen hingegen hat seit 1990 insgesamt 670 Streckenkilometer stillgelegt und seither lediglich 21 Kilometer fรผr den Schienenpersonen- oder Schienengรผterverkehr reaktiviert. Es ist nicht hinnehmbar, dass die Koalition die dringend notwendige Verkehrswende verschleppt! Anstatt Menschen ohne Schienenverkehrsanschluss immer wieder zu vertrรถsten, muss die Staatsregierung jetzt handeln und stillgelegte Bahnstrecken schnellstmรถglich reaktivieren.โ
Hinweis der Redaktion in eigener Sache
Seit der โCoronakriseโ haben wir unser Archiv fรผr alle Leser geรถffnet. Es gibt also seither auch fรผr Nichtabonnenten alle Artikel der letzten Jahre auf L-IZ.de zu entdecken. รber die tagesaktuellen Berichte hinaus ganz ohne Paywall.
Unterstรผtzen Sie lokalen/regionalen Journalismus und so unsere tรคgliche Arbeit vor Ort in Leipzig. Mit dem Abschluss eines Freikรคufer-Abonnements (zur Abonnentenseite) sichern Sie den tรคglichen, frei verfรผgbaren Zugang zu wichtigen Informationen in Leipzig und unsere Arbeit fรผr Sie.
Vielen Dank dafรผr.
Keine Kommentare bisher