Am Ende wirkte es wie ein Foul im Strafraum: Am Mittwoch, 16. Dezember, entschieden die Länderkulturminister, die Stadt Chemnitz vorläufig nicht zur Europäischen Kulturhauptstadt zu ernennen. Der Freistaat Bayern hatte sein Veto eingelegt. In der „Süddeutschen“ war zuvor eine regelrechte Räuberpistole erschienen. Was zumindest zeigte, wie wichtig selbst das selbstgefällige Bayern einen solchen Titel nimmt. Von Selbstbewusstsein erzählt das eher nicht. Aber von pekuniären Interessen.

Was an der Geschichte der „Süddeutschen“ wirklich dran ist, analysierten am 13. Dezember Tobias Krone und Agnes Bührig für den Deutschlandfunk. Und man muss schon naiv sein oder ein besonders aufs Schönreden geschickter Politiker, um gerade das nun als Skandal zu sehen, was bei anderen Titelwettbewerben seit Jahren längst geübte Praxis ist. Von der Bestechlichkeit deutscher Fußballfunktionäre im Vorfeld gewünschter Fußball(welt)meisterschaften muss man da gar nicht erst reden.

Nur dass hier bislang keine Bestechungsgelder nachweisbar sind, aber natürlich die Umtriebigkeit eines Kulturmanagers wie Jiří Suchánek, der nicht nur im Zusammenhang mit Chemnitz namhaft wurde, sondern auch bei anderen deutschen Bewerberstädten. Denn natürlich ist es Gold wert, wenn einer weiß, wie eine europäische Jury zu ihren Entscheidungen kommt und wie ein Bewerbungs-Buch aussehen muss, damit es Erfolg hat.

Der Deutschlandfunk zitiert dazu den Schriftsteller Juan S. Guse, der das Bid Book für die Bewerberstadt Hannover schrieb: „Und dann kommt so ein Berater von so einer Agentur auf dich zu und erklärt dir, dass bald die Abgabefrist für die Bewerbung zur Kulturhauptstadt 2025 sei. (..) Aber du müsstest dir keine Sorgen machen. Er habe nämlich bereits zahlreiche Bid Books für Städte geschrieben und wisse genau, was zu tun sei. Daraufhin zeigt er dir seine Arbeit der letzten Jahre: Dutzende Bewerbungen, alle originell und ansprechend gestaltet. (..) Und so ziemlich alle Städte, stellst du fest, liegen offenbar ,im Herzen Europas‘. (..) Der Berater steht neben dir, nickt und zum Schluss nennt er dir einen Preis für seine Kunst.“

Die Europäische Kultur(haupt)stadt gibt es seit 1985. Das ist genug Zeit, dass nicht nur Städte begreifen können, was für ein starkes Marketinginstrument das ist. Da sammeln eben auch reisende Kulturexperten das nötige Knowhow an, das sie dann eben auch versuchen, an die Bewerber zu bringen. Inwieweit das in Chemnitz der Fall war, ist noch offen.

Sachsens Staatsministerin für Kultur und Tourismus, Barbara Klepsch, machte am Mittwoch noch freundliche Miene zu diesem Spiel, in dem sich der Vorsitzende der Kulturministerkonferenz und Bayerische Staatsminister für Wissenschaft und Kunst, Bernd Sibler, geradezu als großer Saubermann darstellte: „Chemnitz ist zweifelsohne die Siegerstadt, dies betonten alle Mitglieder der Kulturministerkonferenz in der heutigen Videoschalte. Gleichzeitig ist es wichtig, dass es keine Zweifel an der Ernennung gibt, deshalb nehmen wir uns die Zeit und entscheiden Anfang Januar.“

Was Franz Sodann, kulturpolitischer Sprecher der Fraktion Die Linke im Sächsischen Landtag, sowie die beiden Chemnitzer Abgeordneten Susanne Schaper und Nico Brünler dann doch etwas zu anmaßend fanden.

„Die Kulturminister der Länder haben auf ihrer gestrigen Videokonferenz eine Entscheidung über die offizielle Ernennung von Chemnitz zur Europäischen Kulturhauptstadt 2025 auf Anfang des kommenden Jahres vertragt. Bayern hatte im Falle eines sofortigen Beschlusses der Kulturminister mit einem Veto gedroht. Sachsens Kulturministerin Barbara Klepsch versucht die Nichtentscheidung herunterzuspielen – Chemnitz sei ,zweifelsohne die Siegerstadt‘, es dürfe jedoch ,keine Zweifel an der Ernennung‘ geben“, gingen sie am 17. Dezember auf diese öffentliche Ohrfeige für die sächsische Kulturstadt ein.

„Die Ministerin widerspricht sich selbst. Ganz so unumstritten, wie sie die Öffentlichkeit glauben machen will, ist die Siegerstadt offenkundig nicht. Wozu sonst wollen die Länderkulturminister zu Beginn des kommenden Jahres mit der Vorsitzenden der Europäischen Jury für die Vergabe des Kulturhauptstadt-Titels reden?“

Und sie verwiesen auf die „Süddeutsche“, deren Berichterstattung den Grundton vorgegeben hat: „Erst gestern hat die in Bayern erscheinende Süddeutsche Zeitung von einem ,fragwürdigen Netzwerk‘ hinter der Bewerbung geschrieben: ,Die Hinweise, dass es nicht nur bei der Vergabe des Kulturhauptstadt-Titels an Chemnitz fragwürdig zuging, mehren sich‘, heißt es. Die Sache ist also keineswegs harmlos, sondern ernst. Bayern hat sein gestriges Veto auch deshalb eingelegt, weil Nürnberg zu den Mitbewerbern um den Titel zählte.“

Sie finden, Staatsministerin Klepsch sollte der Öffentlichkeit reinen Wein einschenken, „anstatt so zu tun, als sei Chemnitz unumstritten. Auch die bayerische Landesregierung muss ihre Interessenlage transparent machen und etwaige Zweifel am Verfahren mit Belegen unterfüttern. Und die Stadt selbst muss in die Offensive gehen, um bestehende Zweifel auszuräumen. Auf jeden Fall wird die Linksfraktion die offenen Fragen im Kulturausschuss des Landtages zum Thema machen.“

Am Freitag, 18. Dezember, forcierten Susanne Schaper und Nico Brünler den Ton: „Wir zweifeln keineswegs den Titel der Kulturhauptstadt 2025 für Chemnitz an. Es ist jedoch offensichtlich, dass andere dies tun, sonst wäre die Entscheidung der Kulturminister nicht vertagt worden. Dies stellt einen bislang einzigartigen Vorgang dar. Wir wollen schnellstmögliche Aufklärung über die Vorwürfe, es hätte im Bewerbungsprozess Ungereimtheiten und ,Vetternwirtschaft‘ zugunsten der Chemnitzer Bewerbung gegeben.

Nur wenn diese Vorwürfe schnellstmöglich ausgeräumt werden, kann sich Chemnitz mit voller Kraft und unbeschwert auf sein wohlverdientes Kulturhauptstadtjahr 2025 vorbereiten. Wir sind uns sicher, dass alle Zweifel ausgeräumt werden können und klar wird, dass die Bayern einfach nur schlechte Verlierer sind. Wir stehen zu 100 % hinter Chemnitz als Kulturhauptstadt 2025.“

2020 waren übrigens Galway (Irland) und Rijeka (Kroatien) Kulturhauptstädte. Die Coronakrise hat ihnen ihren Auftritt ziemlich gründlich verhagelt.

Neben Chemnitz soll 2025 noch eine slowenische Kulturstadt den begehrten Titel tragen.

Und Großbritannien hat seine Chance, 2023 eine Kulturhauptstadt zu benennen, durch den Brexit verspielt. Dass der Titel Kulturhauptstadt so begehrt ist, hat auch mit dem wachsenden Städtetourismus in Europa zu tun, der sich nach Corona noch verstärken wird. Und Kultur ist nun einmal das wichtigste Marketingthema für eine Stadt.

So betrachtet, haben auch diesmal wieder wirtschaftliche Interessen eine politische Entscheidung infrage gestellt. Es ist die übliche Nachtigall, die man da trapsen hört, wenn es um Wirtschaftsinteressen West und Wirtschaftsinteressen Ost geht. Wobei es die Mitwerberstädte Nürnberg und Hannover viel sportlicher genommen haben als die bayerische Landesregierung.

Die Nickeligkeiten gären eher auf der Länderebene vor sich hin. Und da sind ostdeutsche Landesminister/-innen oft wirklich noch zu nachgiebig und freundlich, wo Bayerns Minister überhaupt keine Skrupel kennen, richtig loszuholzen, wenn es aufs gegnerische Tor geht.

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