Eigentlich hätte auch dieser Brief an den sächsischen Innenminister gehen müssen. Aber Juliane Nagel, Leipziger Landtagsabgeordnete der Linken, hat ihn lieber an Leipzigs Polizeipräsidenten Torsten Schultze geschickt: Unter ihm wurden die schon zuvor ausufernden Hubschraubereinsätze der Polizei in Leipzig noch ausgeweitet. Egal, ob irgendwo eine Demo angekündigt ist oder RB Leipzig im Heimstadion spielt – stundenlang kreist der Hubschrauber über dem Stadtgebiet.
Was die fliegende Beobachtungszentrale da oben macht, welche Ergebnisse sie bringt und welchen Nutzen der Einsatz hat, dazu gibt es keine Informationen. Auch nicht auf die Landtagsanfragen der Linken, die seit einigen Jahren immer wieder nachfragen, was das soll.
Dass Sachsens Polizeipräsidien über die Verhältnismäßigkeit des Hubschraubereinsatzes schon lange nicht mehr nachdenken, bestätigt Innenminister Roland Wöller in der Antwort auf die jüngste Anfrage von Juliane Nagel zu den Hubschraubereinsätzen 2020: „Der Einsatz dieses Führungs- und Einsatzmittels erfolgt unter Berücksichtigung der Eignung für die jeweils zu erfüllende Aufgabe, der Verfügbarkeit und deren Dringlichkeit. Eine Prüfung der Verhältnismäßigkeit wird bei möglichen Eingriffsmaßnahmen bei der Nutzung des Polizeihubschraubers, zum Beispiel bei Bildaufnahmen, vorgenommen.“
Sie hat eindeutig nach der Verhältnismäßigkeit des Hubschraubereinsatzes gefragt, nicht nach dem von Bildaufnahmen. Aber der Minister weicht aus.
Und es ist nicht so, dass die Zahl der Hubschraubereinsätze über Leipzig erst mit Torsten Schultzes Dienstantritt als Polizeipräsident zunahm. Auch unter seinem Vorgänger wurde schon fleißig geflogen. Gern auch in den Morgenstunden des Silvestertages über Connewitz. Das ist jedes Mal die stundenlange Ouvertüre für ein Jahresende, von dem eigentlich schon vorher klar ist, dass die Polizei wieder ihre Macht demonstrieren will.
Und ebenso regelmäßig ordert auch die Bundespolizei Hubschrauber (die in der Liste gar nicht erst auftauchen, weil sie nicht dem sächsischen Innenminister untersteht), um nächtlich vor allem die Bahnstrecken in Leipzig abzufliegen – mutmaßlich auf der Jagd nach Sprayern oder anderen Leuten, die unerlaubt auf Bahngelände unterwegs sind. Meist tauchen solche Einsätze, bei denen die Hubschrauber zwischen ein bis zwei Stunden über dem Stadtgebiet kreisen, unter dem eher nichtssagenden Einsatzgrund „Fahndung“ auf.
So wie zuletzt am 29. Juni, am 27. Juni und am 18. Juni. Am 17. Juni meinte die Leipziger Polizei, die Demonstration unter dem Motto „Unsere Solidarität gegen eure Repression“ drei Stunden lang mit dem Hubschrauber begleiten – und wahrscheinlich auch filmen zu müssen. Teilnehmerzahl: 150 Menschen. Am 10. Juni war es eine Spontandemo in Connewitz, die wie bestellt zustande kam, nachdem die Polizei zuvor mehrere Wohnungsdurchsuchungen in dem Stadtteil durchgeführt hatte. Auch hier kreiste der Hubschrauber fast drei Stunden über dem Ortsteil.
Nur zu Recht stellt Juliane Nagel die Frage nach der Verhältnismäßigkeit dieser Hubschraubereinsätze.
Die Landtagsabgeordnete Juliane Nagel hat sich mit einem Offenen Brief an den Leipziger Polizeipräsidenten Torsten Schultze gewandt.
Der offene Brief an den Leipziger Polizeipräsidenten.
Darin kritisierte sie die zunehmenden polizeilichen Hubschrauberflüge über der Stadt Leipzig. Die Abgeordneten haben zahlreiche Beschwerden erreicht. Auch in den sozialen Netzwerken werden die Hubschraubereinsätze kritisch diskutiert. In dem Brief heißt es: „Bei mir melden sich Menschen, deren Kinder nachts schlafen sollen, um morgens ausgeruht für Kita und Schule zu sein, Erwachsene, die tagsüber mit höchster Konzentration und Präzision arbeiten müssen und teilweise sogar in Schichtarbeit tätig sind, sowie alte Menschen, die nachts altersbedingt sowieso schon kaum zur Ruhe kommen und durch den Hubschrauberlärm zusätzlich am Schlaf gehindert und verunsichert werden.“
In Auswertung von mehreren Kleinen Anfragen der Abgeordneten und ihres Kollegen Enrico Stange lässt sich rückblickend ein massiver Anstieg von Hubschraubereinsätzen der Landespolizei verzeichnen. Vor allem aber ist auch die Zahl der Einsatzstunden in die Höhe geschnellt.
Waren es etwa im Jahr 2010 noch 58 Hubschraubereinsätze der Polizeidirektion Leipzig (berechnet für das seit 2013 bestehende Gebiet der PD Leipzig), entwickelte sich die Zahl sukzessive nach oben (102 in den Jahren 2015 und 2017 und 105 im Jahr 2019). Seit 2016 gehen zudem die Flugstunden per Einsatz steil nach oben. Waren es in den Halbjahren ab 2006 bis auf wenige Ausnahmen zwischen 60 und 80 Flugstunden bei allen Einsätzen, bewegen sich die Flugstunden seit dem 1. Halbjahr 2017 im Bereich 100 Stunden bis 144 Stunden.
Bei den Einsatzgründen gab es einen wahrnehmbaren Anstieg bei der Überwachung von Fußballspielen, Versammlungen und Veranstaltungen und bei sogenannten Aufklärungsflügen.
Dabei sei festzuhalten, so Juliane Nagel, dass mit dem Einsatz von Hubschraubern Kosten in Höhe von 4.368,77 Euro pro Flugstunde und eine erhebliche Lärm- und Umweltbelastung verbunden ist.
In ihrem Offenen Brief schreibt Juliane Nagel an Torsten Schultze: „Ich bitte Sie herzlich im Namen zahlreicher entnervter Leipziger Bürger/-innen, das momentane Vorgehen beim Einsatz von Hubschraubern einer kritischen Überprüfung zu unterziehen und eine merkliche Reduzierung der Flüge zu ,Aufklärungszwecken‘, wegen Versammlungen oder Bagatelldelikten zu veranlassen. Damit ermöglichen Sie nicht nur den Menschen in Leipzig eine ungestörte Nachtruhe, sondern stärken ebenfalls das Verständnis der Bevölkerung für die Lärmbelästigung in jenen Einsatzlagen, bei denen die Unterstützung der polizeilichen Arbeit durch Hubschrauber unabdingbar ist.“
Die Auflistung in der Antwort von Innenminister Roland Wöller (CDU) freilich zeigt auch, dass die Polizeipräsidenten in Görlitz, Chemnitz und Dresden genauso emsig den Hubschrauber zum Einsatz bestellen wie ihr Kollege in Leipzig. Die Hubschrauber kommen in Sachsen geradezu als Allzweckwerkzeug zur Überwachung und Versammlungskontrolle zum Einsatz.
Nicht nur bei Ereignissen, in denen eine „hohe Gefährdungslage“ zu erwarten ist, in den meisten Fällen rein präventiv. Am 30. Mai zum Beispiel, als es in Leipzig gleich drei – wegen Corona eingeschränkte – Versammlungen in Leipzig gab, da wurden gleich zwei Hubschraubereinsätze gebucht.
Die Maschinen kreisten jeweils zwei Stunden über der Innenstadt. Dazu kam an dem Tag auch noch ein Fahndungseinsatz. Und da auch etliche Einsätze des Landeskriminalamtes über Leipzig stattfinden, freut man sich beinahe über Tage, in denen der Luftraum über der Stadt von keinem Fluggerät verlärmt wird und auch nachts niemand meint, er müsste stundenlang über der schlaflosen Stadt kreisen.
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Die neue Leipziger Zeitung Nr. 81: Von verwirrten Männern, richtigem Kaffee und dem Schrei der Prachthirsche nach Liebe
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Es gibt 4 Kommentare
Anschläge auf Bahneinrichtungen, Baustellen, aus dem Ruder gelaufene Demos, die Liste ist lang….
“Handtaschenräuber, Handtaschenräuber, Da hilft nur noch Hubschraubereinsatz, Hubschraubereinsatz.” Im Jahr der Machtergreifung Kohls hat man sich noch darüber lustig gemacht, heute ist es schon Realität, dass man selbst bei Kleinststraftaten mit dem Hubschrauber auf “Verbrecherjagd” geht https://www.youtube.com/watch?v=2pAr1IMiP6A
mmmhhh. Demnach ist jetzt die Polizei was genau im “Klassenkampf”?
Ich finde es herrlich, erst Klassenkampf propagieren und sich dann über Gegenmaßnahmen beschweren.