LEIPZIGER ZEITUNG/Auszug Ausgabe 78, seit 24. April im HandelReligion darf in Sachsen demnächst wieder in Gemeinschaft ausgeübt werden. Kultur live und in Gruppen zu genießen ist weiterhin nicht gestattet. Worüber man kaum etwas hört ist, neben Kultur und Religion, ein weiteres zutiefst menschliches Bedürfnis: Sex.
Zwar sind während der Corona-Beschränkungen in Sachsen die Treffen von Lebenspartnern von Anfang an gestattet worden. Nur lag auch dort der Teufel im Bürokratiedeutsch verfassten Formulierungsdetail. Denn es sollte Menschen, die nicht dieselbe Wohnung teilen, durchaus schwerfallen einem misstrauischen Beamten nachzuweisen, dass sie sehr wohl berechtigt sind, sich zu treffen und – ohne den Pandemie-Abwehrabstand einzuhalten – auch zu berühren. Doch wie steht es um das Dating? Wie steht’s um Tinder, Joyclub, Grindr und Co?
Macht die Sehnsucht nach Sex und Nähe während des Lockdowns Sendepause?
Mario* (Name geändert), 32, Student im Abschlusssemester an der Universität Leipzig, ist ein regelmäßiger Nutzer der Datingapp Tinder und auch in mehreren Onlineerotikforen registriert, die er ebenfalls nutzt, wenn auch nicht so intensiv wie Tinder. Danach gefragt, ob er auch jetzt noch die App weiter nutzt, antwortet er: „Auf jeden Fall. Ich lade Dates eben jetzt zu mir nach Hause ein oder wir treffen uns bei ihr. Das hat bisher funktioniert. Ich will mich gerade jetzt nicht einschränken müssen.“ Laut Mario haben seine Singlefreunde ihre Datingaktivitäten ebenfalls kaum eingeschränkt. Sondern diese eben wie er aus dem öffentlichen Raum, aus Bars, Gaststätten und Clubs, in Privatwohnungen verlegt.
Marios Aussage kann nicht repräsentativ für die komplette Singleszene in Leipzig sein. Aber sie wirft ein Schlaglicht auf Dating und Sex in Zeiten der Pandemie. Auf die Frage, ob er jetzt weniger Fremde für Dates trifft, entgegnet er immerhin, dass die Phase in der man sich gegenseitig Messages schreibt, aktuell schon etwas länger sei als vor Corona. Weswegen für ihn, gemessen an früher, schon weniger Virtuelle Bekanntschaften in einem Treffen enden.
Auch Susanne* (Name geändert), 43, hat ähnliche Erfahrungen beim Dating in Coronazeiten gemacht. Obwohl sie angibt, dass sie Datingapps vor den Beschränkungen eher sporadisch nutzte, verlegte sie ihre Datingaktivitäten inzwischen verstärkt in den virtuellen Raum, wobei sie allerdings: „auch Facebook“ als Möglichkeit nutzt.
„Ich hatte Angebote, mich mit Dates in deren Wohnungen zu treffen. Bisher habe ich darauf verzichtet. Solange die Einschränkungen bestehen, werde ich bei Chatten im Netz bleiben. Ich würde mich dabei nicht wohlfühlen, die Vorschriften zu übergehen. Außerdem befürchte ich, dass es jetzt riskanter ist, mich in einer fremden Wohnung mit einem Date zu treffen. Das ist auch zu normalen Zeiten nicht easy, weil da immer etwas passieren könnte, was du nicht willst.“
Susanne fügt aber auch hinzu, dass sie ein potenzielles Treffen hatte, das platzte, weil ihr Date als Beamter Repressionen fürchtete, sollte er die Vorschriften zur Kontaktbeschränkungen übertreten und dabei ertappt werden.
Tinder lässt es laufen
Bei der Installation der Tinder-App am 17. April erschienen keinerlei Informationen, oder gesonderte Verhaltenshinweise für User während der Pandemie. Obwohl es keine technische Hürde für die Betreiberfirma MatchGroup Inc. aus Dallas darstellen sollte. Diese könnten sogar speziell auf die Wohnorte der User zugeschnitten werden.
Immerhin erfordert Tinder bei der Anmeldung zwingend Zugriffserlaubnis auf den Standort des Nutzers. Stattdessen stellt Tinder das Reisepass-Feature, eines seiner sonst kostenpflichtigen Zusatzangebote gratis zur Verfügung. Dort immerhin findet sich ein vage gehaltener Hinweis darauf, dass gerade in Zeiten von „sozialer Isolation“ Kommunikation wichtiger sei denn je. Da hätte man durchaus mehr und Konkreteres erwartet.
Etwas anders handhabt Franziska* (Name geändert), 39, Unternehmerin, die Situation. Sie benutzt keine Datingapps. Ihr Grundsatz beim Dating ist, dass sie sich stets an öffentlichen Orten mit ihren Flirts trifft.
„Ich bin in vielen verschiedenen sozialen Netzwerken aktiv und bin kommunikativ veranlagt, jemanden kennenzulernen war analog nie schwer für mich. Aktuell habe ich nur Kontakt zu Männern, die ich bereits kenne. Mit potenziellen Kontakten, die jetzt online dazugekommen sind, bin ich für ,nach-corona‘ verabredet. Dann entsprechend auf ,neutralem Boden‘, also wieder in Cafés, Bars, Hotels, Gaststätten.“
Alexander* (Name geändert), 40, Freiberufler und schwul, glaubt nicht, dass die Unterschiede im Dating und Sexualverhalten von Schwulen und Heteros während der Pandemie sich gravierend unterscheiden. Er berichtet aber, dass z. B. bei Gay Royale, einem der Datingapps, die er regelmäßig nutzt, schon häufig Warnhinweise eingeblendet werden, mit denen auf den Lockdown und den sicheren Umgang miteinander hingewiesen wird.
„An den einschlägigen Sextreffpunkten der Gays ist auch jetzt Betrieb“, informiert er. „Allerdings hält man dort Abstand und schaut sich eben gegenseitig beim Wichsen zu. Einer meiner Freunde, der die frühen AIDS-Zeiten miterlebte, fühlt sich gerade wieder an diese Ära erinnert. Die ja auch mit großer Verunsicherung einherging. Doch die Mehrzahl meiner Kontakte agiert aktuell vorsichtig.
Klar, wer spitz wie Lumpi ist, der findet auch jetzt einen Sexpartner. Das wird sich bei uns Schwulen nicht gravierend von den Heteros unterscheiden. Schwul, Single und irgendwo in einer Kleinstadt eingesperrt sein, wo man weiterhin Ressentiments gegen Schwule hegt, möchte ich jetzt aber auch nicht sein. Das ist bestimmt schrecklich.“
Von einer anderen Warte aus betrachtet Anita* (Name geändert), 39, Sexarbeiterin und Aktivistin beim Berufsverband erotische und sexuelle Dienstleistungen e. V., das Paarungsverhalten während der Pandemie. Sie versucht eine vorsichtige Bestandsaufnahme der Situation von Sexworkern in sächsischen Metropolen.
Wobei sie strikt zwischen deutschen und registrierten Sexworkern und ausländischen unterscheidet, die sich nicht registriert haben. Denn in einer besonders heiklen Situation sind die ausländischen Frauen, die von der Coronakrise in Deutschland überrascht wurden, aber wegen der Grenzschließungen nicht in ihre Heimatländer ausreisen konnten. Viele von ihnen sind in Deutschland als Sexdienstleisterinnen nach dem Prostituiertenschutzgesetz registriert. Andere haben dies aus Furcht vor Stigmatisierung jedoch unterlassen.
Wie steht es um die Sexarbeiter/-innen im Lockdown?
„Sexarbeit ist vom Lockdown ebenso betroffen wie die übrigen nicht systemrelevanten Branchen. Die registrierten Sexarbeiterinnen und Sexarbeiter haben, wie alle Soloselbstständige, die Möglichkeit, die Unterstützung vom Bund und dem Freistaat zu beantragen oder können sich in Härtefällen auch um ALG II bemühen.
Miete für die Arbeitswohnungen fällt weiterhin an, dazu kommen Nebenkosten, Strom, Wasser, Wärme, Netz, die bezahlt werden müssen, während der Zeit, in der es nicht möglich ist, Freier zu empfangen. Aber auch die Sexarbeiterinnen stehen vor ähnlichen Problemen wie andere Soloselbstständige, die ja mit den Mitteln vom Freistaat nur ihre gewerblichen Kosten begleichen dürften, aber nicht ihren eigentlichen Lebensunterhalt.“
Der Bedarf nach sexuellen Dienstleistungen besteht während der Coronakrise selbstverständlich weiter. „Es ist nicht auszuschließen, dass Kolleginnen Stammkunden auch weiterhin empfangen. Dabei ist die Kontaktaufnahme auch ohne den Umweg über Webseiten möglich, man ruft eben an und vereinbart ein Treffen.“ Wobei Anita betont, dass bei solchen Treffen das Risiko für die Sexworkerin höher sein kann, von einem Freier betrogen oder misshandelt zu werden, da die betreffende Kollegin ihre Gäste vielleicht allein in der Wohnung empfängt und den Gästen dies sicher auch bewusst klar ist.
Obwohl Anita keine Angaben dazu machen will oder kann, wie hoch der Anteil ausländischer oder illegaler Sexarbeiterinnen in Leipzig ist, betont sie, dass aufgrund einer Empfehlung des Familienministeriums den Betroffenen einige Bundesländer gestatteten, in ihren Arbeitsräumen im Bordell auch zu übernachten, was nach dem Prostituiertenschutzgesetz sonst untersagt gewesen wäre.
Staatliche Unterstützung beantragen allerdings nur wenige der Sexdienstleisterinnen aus anderen EU-Staaten, aus Angst, dass eine Registrierung zu Schwierigkeiten bei einer erneuten Einreise nach Deutschland führen könnte. Hinzu kommt, dass Hintermänner aus dem Rotlichtmilieu darauf bestehen könnten, dass die betroffenen Frauen ihre Dienste weiterhin anbieten, wogegen die sich kaum gegen solche Anweisungen widersetzen könnten.
Dating und Sex unter Singles findet in Zeiten eingeschränkter Bewegungsfreiheit also offenbar nicht ganz auf dem Niveau der Vor-Corona-Ära statt. Aber, wie Student Mario, sagte: „Daten ist jetzt aufregender als früher. Das hat eine andere Qualität. Ich glaube, es war unbedacht von der Regierung in einem Land wie diesem – mit so einem hohen Anteil an Einzelhaushalten –, uns Singles alle sozusagen zu Einzelhaft zu verdonnern.“
Die neue Leipziger Zeitung Nr. 78: Wie Corona auch das Leben der Leipziger verändert hat
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