Für FreikäuferLEIPZIGER ZEITUNG/Auszug Ausgabe 73, seit 29. November im HandelEin Blick auf die Zahlen zeigt, dass es mittlerweile kaum noch möglich ist, die rechtsradikale AfD einfach zu ignorieren. Beispiel Bundestag: Dort ist die AfD mit 91 Abgeordneten die Oppositionsführerin. Gemäß parlamentarischer Gepflogenheiten hatte sie deshalb das Recht auf den Vorsitz im wichtigen Haushaltsausschuss. Der im Januar 2018 zum Vorsitzenden gewählte Peter Boehringer war zuvor mit Verschwörungstheorien, Rassismus, NS-Vokabular und heftigen Beleidigungen aufgefallen.
Auch im Rechtsausschuss hatte bis zum 13. November 2019 ein AfD-Politiker den Vorsitz inne. Der in früheren Jahren mehrmals wegen Beleidigungen aus dem Landtag ausgeschlossene Stephan Brandner wurde an diesem Tag als Vorsitzender abgewählt. Lediglich in das Präsidium des Bundestages haben es AfD-Politiker/-innen bislang nicht geschafft. In mehreren Wahlgängen erreichten verschiedene Kandidat/-innen nicht die erforderliche Mehrheit der Stimmen.
Beispiel sächsischer Landtag: Mit 38 Abgeordneten ist die AfD auch hier stärkste Oppositionspartei und besetzt fast ein Drittel der Sitze. Sie verfügt damit über die notwendige Anzahl von Abgeordneten, um im Alleingang einen Untersuchungsausschuss einzusetzen – so wie es im Oktober bezüglich der Listenkürzung vor der Landtagswahl erstmals geschehen ist. Ein AfD-Antrag für eine Enquete-Kommission für den ländlichen Raum scheiterte hingegen am nötigen Quorum von 40 Abgeordneten. In beiden Fällen hatte außerhalb der AfD-Fraktion niemand für die Anträge gestimmt.
Beispiel Leipziger Stadtrat
Bei der Kommunalwahl am 26. Mai konnte die AfD die Anzahl ihrer Sitze fast verdreifachen: von vier auf elf. Es ist absehbar, dass sie künftig einen Anspruch auf die Stellen der Fachbürgermeister/-innen anmelden wird. Diese sollen in etwa die Zusammensetzung des Stadtrates repräsentieren. Bei sieben Beigeordneten und einer AfD, die etwas mehr als ein Siebtel des Stadtrates ausmacht, müsste demnach auch die Rechtsaußenpartei zum Zug kommen.
In vielen Parlamenten ist die AfD mittlerweile so groß, dass sie in Ausschüssen und Debatten nicht mehr zu überhören beziehungsweise zu übersehen ist. Während es im Bundestag und im sächsischen Landtag bis heute Konsens ist, nicht für Anträge der AfD zu stimmen oder gemeinsame Anträge einzubringen, sieht die Lage auf kommunaler Ebene – wo es häufig keine klare Abgrenzung zwischen Regierung und Opposition gibt – anders aus.
In vielen sächsischen Kommunen haben Vertreter/-innen demokratischer Parteien bereits mit der AfD zusammengearbeitet. Auch in Leipzig.
Häufig sind die Grenzen nicht ganz klar: ob von einer aktiven Zusammenarbeit mit der AfD zu sprechen ist oder lediglich davon, dass bestimmte Versuche der Einflussnahme durch diese Partei nicht verhindert werden. In Chemnitz beispielsweise änderte sich kurz vor der Landtagswahl am 1. September die Zusammensetzung des Jugendhilfeausschusses. Ein Dachverband für Kultur- und Jugendarbeit, der mehr als 50 Vereine vertritt, war darin nicht mehr vertreten.
Chemnitz, Zwickau, Pirna und der Fall Gorisch
Das Alternative Jugendzentrum (AJZ) der Stadt sah darin ein Zeichen für einen Rechtsruck: „Das gemeinsame Abstimmverhalten von CDU, FDP, AfD und Pro Chemnitz zeigt, dass keinerlei Berührungsängste bestehen und beschert der Stadt unter anderem einen Jugendhilfeausschuss, aus dem nahezu alle Akteur/-innen einer progressiv-demokratischen und alternativen Jugendhilfelandschaft ausgeschlossen wurden.“ Von Pluralität könne nun keine Rede mehr sein.
Mittlerweile sind aus vielen sächsischen Städten ähnliche Meldungen zu hören. So kooperierten beispielsweise in Zwickau die Fraktionen von CDU und AfD bei der Besetzung von Aufsichtsräten. Die Tageszeitung „Freie Presse“ berichtete anschließend von einer „bemerkenswerten Einigkeit in wesentlichen Fragen“. Auch aus Pirna und verschiedenen Landkreisen wurde ähnliches berichtet.
Noch weiter gingen Politiker/-innen in dem kleinen Ort Gohrisch in der Sächsischen Schweiz. Dort bildeten Vertreter/-innen von CDU, AfD und Grünen eine gemeinsame Fraktion. Der Fall sorgte für viel Aufsehen – sogar der MDR und überregionale Medien wie die „Zeit“ und der „Spiegel“ berichteten darüber. Während die Vertreter/-innen von CDU und Grünen die Zusammenarbeit damit rechtfertigten, dass nur auf diese Weise bestimmte Probleme in der Gemeinde zu lösen seien, gab es aus den jeweiligen Landesverbänden scharfen Protest – etwa in der CDU vom sächsischen Generalsekretär Alexander Dierks und bei den Grünen vom Landessprecher und Leipziger Stadtrat Norman Volger.
In Markranstädt westlich von Leipzig sorgte eine ähnliche Kooperation sogar für einen Parteiaustritt des dortigen Bürgermeisters. Die „Freien Wähler“ verständigten sich im September auf eine Zusammenarbeit mit der AfD, um in zwei Ausschüsse mehr eigene Vertreter/-innen entsenden zu können. Die Zusammensetzung der Ausschüsse ist von der Größe der Fraktionen abhängig. Bürgermeister Jens Spiske erklärte, dass eine Kooperation beziehungsweise Fraktionsbildung mit einer Partei wie der AfD für ihn nicht infrage käme.
Der erste gemeinsame Antrag in Leipzig
Auch in Leipzig gibt es bereits einen Fall, in dem Mitglieder anderer Fraktionen mit einem AfD-Stadtrat gemeinsame Sache machten. Mitte November brachten Marius Beyer (AfD), Anja Feichtinger (SPD) sowie Jens Lehmann und Siegrun Seidel (CDU) einen Antrag zur Eisenbahnbrücke in der Geithainer Straße ein.
SPD-Stadträtin Feichtinger erklärte diese Initiative auf Anfrage der LEIPZIGER ZEITUNG damit, dass sie sich vor allem für die Belange der Bürger/-innen im Leipziger Osten und Nordosten einsetzen wolle. „Wir haben gemeinsam die Chance genutzt, nach einem Gespräch mit der DB Netz AG eine längst überfällige Sanierung der Brücke anzuschieben, und versuchen, eine gemeinsame Lösung mit der Stadt Leipzig und der DB Netz AG zu finden.“ Alle vier Antragsteller/-innen leben laut Feichtinger in Engelsdorf. „Herr Beyer war bei den Gesprächen mit der DB Netz AG und auch bei den anschließenden Abstimmungen mit den Ortschaftsräten Mölkau und Engelsdorf anwesend. Somit ist er auf dem Antrag mit erschienen.“
Grundsätzlich sei eine Zusammenarbeit mit der AfD jedoch nicht „erstrebenswert“, sagt Feichtinger. Dieser Antrag sei eine Ausnahme gewesen.
Für den Leipziger Juso-Vorsitzenden Marco Rietzschel ist das bereits eine Ausnahme zu viel. Er verurteilte den gemeinsamen Antrag. Zudem soll die SPD auf dem kommenden Stadtparteitag beschließen, dass es mit der AfD keine Zusammenarbeit geben darf. Die Jusos wollen einen entsprechenden Antrag einbringen.
Christopher Zenker, der Vorsitzende der SPD-Fraktion im Stadtrat, sagte auf Anfrage: „Ich persönlich würde keine gemeinsamen Anträge mit Mitgliedern der AfD-Fraktion stellen.“ Auch für seine Fraktion als Ganzes könne er so etwas ausschließen. „Für uns kann eine Partei, die mindestens in Teilen rassistisch und antisemitisch ist und bei der es an einer klaren Distanzierung von diesen Themen fehlt, kein Partner in der politischen Arbeit sein.“
Zenker bestätigte zudem, dass in der Fraktion darüber diskutiert wird, einen eigenen Antrag zur Eisenbahnbrücke in der Geithainer Straße einzubringen.
Während der AfD in Leipzig zumindest bei diesem Antrag vorübergehend der Anschluss an demokratische Parteien gelungen ist, musste sie auf der konstituierenden Sitzung der Ratsversammlung im September eine Niederlage einstecken. Gemäß Beschlussvorschlag der Verwaltung sollte eigentlich auch ein Mitglied ihrer Fraktion in den Jugendhilfeausschuss gewählt werden. Doch weil Linke und Grüne in geheimer Wahl eine andere Kandidatin auf dem Wahlzettel notierten, erhielt AfD-Stadtrat Christian Kriegel nicht genügend Stimmen.
Doch nicht nur in Sachsen nähern sich Parteien wie SPD und CDU – beziehungsweise einzelne Vertreter/-innen – der AfD an. In Cottbus plante die Stadtratsfraktion der SPD eine gemeinsame Erklärung gegen die Blockadeaktionen von „Ende Gelände“. Die entsprechende Bitte zur Unterzeichnung ging auch an die AfD.
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Der AfD-Abgeordnete Carsten Hütter interessiert sich noch immer für einen L-IZ-Artikel von 2016
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