Im Wahlkampf schlug Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer vor, im Freistaat einen „Volkseinwand“ gegen bereits vom Landtag verabschiedete Gesetze einzuführen. Die Bürger sollten nicht nur am Wahlsonntag verbindliche Entscheidungen treffen, sondern auch bei Gesetzen das letzte Wort haben, schrieb er in einem Gastbeitrag für die „Zeit“. Aber auch ein erfahrener Soziologe wie Gert Pickel aus Leipzig ist da skeptisch.

Derzeit gibt es nichts Vergleichbares in einem anderen Bundesland. Doch was würde die Einführung einer solchen Regelung konkret bedeuten? Und: Wie sind andere Methoden der Bürgerbeteiligung zu bewerten? Zu diesen und anderen Fragen äußert sich anlässlich des Internationalen Tages der Demokratie am 15. September der Religionssoziologe Prof. Dr. Gert Pickel. Er ist Vorstandsmitglied des Kompetenzzentrums Rechtsextremismus- und Demokratieforschung der Universität Leipzig und Mitgründer des Arbeitskreises Demokratieforschung der Deutschen Vereinigung für Politikwissenschaft.

Prof. Dr. Gert Pickel ist Professor für Religions- und Kirchensoziologie an der Theologischen Fakultät der Uni Leipzig.

Herr Prof. Pickel, was halten Sie von Kretschmers Idee, einen Volkseinwand einzuführen?

Ich stehe dem Vorschlag von Ministerpräsident Michael Kretschmer etwas ambivalent gegenüber. Zum einen schafft natürlich ein solches Instrument eine weitere Möglichkeit der Bürgerbeteiligung, was an sich zu begrüßen ist. Neben der damit verbundenen positiven Symbolik beinhaltet die Einführung eines Volkseinwandes allerdings auch das bedenkliche Signal, dass selbst gewählte Politiker der repräsentativen Demokratie meinen, diese leide unter Funktionsschwächen, denen man durch Interventionsmechanismen begegnen muss. Damit gerät man in Gefahr, durch rechtspopulistische Parteien genutzte Argumentationsstrukturen auf der Linie Volk versus Politiker zu legitimieren.

Zudem verspricht der Volkseinwand mehr, als er auf Dauer zu leisten in der Lage sein dürfte. Bürger sind, themenabhängig, schwer zu mobilisieren. So verkümmert der Volkseinwand möglicherweise schnell aufgrund geringer Nutzung zu einem Feigenblatt von Politikern, die den Bürgern vorhalten, sie hätten ja etwas gegen das Gesetz unternehmen können.

Auch die Signalsetzung des reinen Verhinderns ist problematisch. Anders als Volksbegehren, die eine konstruktive Mobilisierung benötigen, setzt der Volkseinwand auf eher negative, rein destruktive Bürgerbeteiligung. Diese lässt sich leicht instrumentalisieren und eröffnet Demagogen die Chance, durch forcierte Volkseinwände mehr öffentliche Sichtbarkeit für sich zu gewinnen. Besser als ein Volkseinwand wäre es, konstruktive Mitwirkungsverfahren zu erleichtern und auszubauen. Politischen Entscheidungen vorgelagerte Bürgerdialoge sind hier ein gutes Mittel, noch besser, und in der Bürgerbeteiligung ehrlicher, wäre die Einführung von Bürgerversammlungen mit zufällig ausgelosten Bürgern in frühen Phasen der Gesetzeserstellung. In dieser, in Irland bereits landesweit eingeführten Praxis, können Bürger sogar sinngemäße Entscheidungsvorlagen in den politischen Prozess einbringen.

Mitbestimmung des Volkes ist wichtig, aber erschwert ein solches Verfahren nicht die Verabschiedung von Gesetzen generell?

Aufwand ist ein schlechtes Argument. Es gibt auch andere, aufwendige Verfahren der Bürgerbeteiligung, wie Volksbegehren und Volksentscheid. Natürlich würde es erheblich länger dauern, Gesetze mit der Chance eines Volkseinwandes und der dafür einzuräumenden Karenzfrist umzusetzen. Dies ist an sich allerdings kein Argument gegen einen Volkseinwand, da auch die angesprochenen konstruktiven Verfahren Zeit benötigen.

Das Problem liegt in der Nutzung solcher intervenierender und in diesem Fall ja nicht konstruktiver Verfahren. Sie sind relativ einfach zu bemühen, benötigen aber keinerlei alternativen Vorschlag für ein Gesetz, anders als ein Volksbegehren oder eben die Bürgerversammlungen. Als Risiko des Volkseinwandes ist zu sehen, dass Populisten und organisierte Interessenvertreter, die über gute Mobilisierungskanäle verfügen, einen verstärkten Einfluss auf die Gesetzgebung erhalten könnten. Sie greifen auf solch eine Möglichkeit strategisch zurück, wenn sie auf anderem Weg nicht erfolgreich waren.

Woran liegt es, dass Volksentscheide in Deutschland kaum als demokratisches Instrument genutzt werden, in anderen Ländern dagegen schon?

Es gibt einen recht praktischen Grund. Volksbegehren benötigen viel Mobilisierung. Diese ist in kleineren Einheiten einfacher als in größeren Einheiten. Zudem ist die Beteiligung für die Bürger ja aufwendig. Die mühsame politische Partizipation ist in der Regel nicht das wichtigste, was man am Tag so vorhat. Auch müssen viele Bürger erst erlernen, dass man in der Demokratie mitmachen muss, um etwas zu bewirken – und man muss Kenntnisse über die Verfahren und Möglichkeiten besitzen. Nicht wenige tun dies auch heute schon und nutzen Demonstrationen, Bürgerdialoge bei Themen, die sie konkret betreffen, sowie Eingabemöglichkeiten.

Möglicherweise würde der transparente Ausbau weiterer Beteiligungsstufen und eine dann auch wirklich transparente Responsivität der Politiker auf diese Beteiligung diese Partizipationslust weiter motivieren. Entgegen des medialen Eindrucks sind allerdings viele Bürger mit dem generellen Ablauf der repräsentativen Demokratie gar nicht einmal so unzufrieden. Sie möchten nur transparent regiert werden und verstehen, was, warum von Politikern getan wird. Daran fehlt es öfters noch.

Wie kann man das hohe Gut der Demokratie in unserem Land noch besser als bisher pflegen?

Wichtig für die Demokratie ist einerseits die Kontrolle der Bürger gegenüber Politikern, aber gleichzeitig auch ein gewisses Vertrauen, dass sie im Normalfall für das Gemeinwohl handeln – auch wenn ein einzelnes Politikergebnis einem einmal nicht gefällt. Gewählte Politiker wiederum sind gehalten, auf die Belange der Bürger einzugehen, transparent zu vermitteln, warum und wie man diesen Forderungen entspricht oder – möglicherweise aus guten Gründen – nicht. Politiker müssen erklären, was sie machen und Verantwortung für ihr Handeln zu übernehmen. Denn die Forderungen in einer pluralen Gesellschaft sind eben vielfältig und unterschiedlich – und nicht allen kann man gleichzeitig entsprechen. Das eine homogene Volk, für das man handelt, gibt es in einer modernen liberalen Demokratie nicht. Über konstruktive Beteiligungsformen kann man diese Pluralität dabei sicher besser einbinden, als durch destruktive Verhinderungsformen von spezifischen Interessensgruppen.

Das Interview führte die Medienredaktion der Uni Leipzig.

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