Die meisten Sachsen werden nie von der Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen e. V. gehört haben. Sie werden sich eher darüber wundern, dass es an sächsischen Staats- und Bundesstraßen immer kahler wird. Jahr für Jahr werden dort tausende Bäume gefällt. Nur wenige hundert werden nachgepflanzt. Und der Grund dafür ist eine eigentümliche Richtlinie für passiven Schutz an Straßen durch Fahrzeug-Rückhaltesysteme (RPS 2009). So sorgt ein fast unbekannter Männerverein für kahle Straßen in Sachsen.

Auch wenn nach der jüngsten Anfrage des Grünen-Fraktionsvorsitzenden im Sächsischen Landtag, Wolfram Günther, an die Staatsregierung wieder einmal Verkehrsminister Martin Dulig (SPD) im Mittelpunkt der Kritik steht, auch wenn der meint, dass er als Minister damit gar nichts zu tun hätte, denn das Straßenbäumepflanzen sei Sache des LASUV, des für Straßenbau zuständigen Amtes, das aber seinem Ministerium unterstellt ist.

Die Zahl der Bäume entlang von Bundes- und Staatsstraßen nahm in Sachsen auch im Jahr 2018 weiter ab. Konkret wurden im vergangenen Jahr 7.674 Bäume an diesen Straßen im Freistaat gefällt. Im Gegenzug erfolgten gerade einmal 415 Nachpflanzungen. Dies geht aus der Antwort von Wirtschaftsminister Martin Dulig (SPD) auf eine Kleine Anfrage von Wolfram Günther hervor.

„Gerade einmal fünf Prozent aller in Sachsen an Bundes- und Staatsstraßen im Jahr 2018 gefällten Bäume wurden wieder ersetzt“, kritisiert Wolfram Günther. „Das ist ein dramatischer Verlust.“

Im Jahr 2010 standen noch 269.375 Bäume an den sächsischen Bundes- und Staatsstraßen. Von ihnen wurden 63.246 Bäume bis Ende 2018 gefällt. Im gleichen Zeitraum sind jedoch nur 24.690 neue Gehölze gepflanzt worden.

„Die großen Ankündigungen von Ministerpräsident Michael Kretschmer für mehr Bäume in Sachsen haben mit der Realität des Regierungshandelns seiner CDU/SPD-Regierung wenig zu tun. Die Staatsregierung bekommt ja noch nicht einmal den Schutz des aktuellen Baumbestands hin. Nur 39 Prozent der gefällten Bäume wurden seit 2010 überhaupt ersetzt. Dabei ist kaum eine Klimaschutzmaßnahme so schnell und effizient umsetzbar wie die Neupflanzung von Bäumen“, betont Günther. „Wurden im Jahr 2010 immerhin noch 54 Prozent der gefällten Bäume an Bundes- und Staatsstraßen ersetzt, sank der Anteil der Nachpflanzungen im vergangenen Jahr sachsenweit auf den Tiefstand von nur noch fünf Prozent. Diese verheerende Bilanz lässt sich nicht mit Absichtserklärungen beheben. In der CDU/SPD-Staatsregierung fehlt es schlicht am Willen nachhaltig zu handeln.“

Die seltsame RPS 2009

Das Problem, das dazu führt, dass nur ein winziger Bruchteil der gefällten Straßenbäume wieder nachgepflanzt wird, steckt in der oben erwähnten RPS 2009, die ab 2010 auch in Sachsen wirksam wurde. Sie schreibt einen Mindestabstand von Straßenbäumen von 7,50 Meter zum Straßenrand vor. Ein bürokratischer Irrsinn, der dafür sorgt, dass historische Baumreihen, die in der Regel eher zwei bis drei Meter vom Fahrbahnrand entstehen, in einen Status der Illegalität geraten.

Häufen sich hier die Unfälle, auch wenn die Fahrer mit überhöhter Geschwindigkeit unterwegs waren, greift das LASUV zur Säge. Und dann – dann gibt es ein Problem. Denn die historischen Straßen besitzen dann vielleicht noch einen Graben. Aber selten ist der Abstand zum nächsten Feldrain größer als 5 Meter. Es ist nach der RPS 2009 also gar kein Platz, um normgerecht wieder Bäume im „richtigen“ Abstand zu pflanzen.

Das LASUV müsste also von den Grundstücksbesitzern an den Staatsstraßen überall sieben Meter breite Flurstücke aufkaufen, um die neuen Baumreihen im „richtigen“ Abstand anpflanzen zu können. Ob es das Amt auch tut, erfährt Wolfram Günther nicht. Da weicht ihm der Verkehrsminister aus. Man darf wohl annehmen, dass es das nicht tut. Denn woher soll das Geld für diese vielen Hektar Ackerland kommen, das jetzt einer seltsamen Norm gemäß den Staatsstraßen zugeschlagen werden soll? Und welch ein Denken steckt dahinter, wertvolle Ackerfläche zu opfern, damit an den Straßen breite Streifen von unbepflanztem Sicherheitsabstand entstehen können?

Männer mit altertümlichen Vorstellungen von Straßen

Dabei ist die RPS 2009 überhaupt keine gesetzliche Norm. Und die Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen ist auch keine staatliche Einrichtung, die solche Vorschriften ganz amtlich entwickeln und beschließen kann, sie ist ein privater gemeinnütziger technisch-wissenschaftlicher Verein mit Sitz in Köln, der quasi in Eigenermächtigung solche Straßenbauempfehlungen entwickelt, die massiven Einfluss auf alle Verkehrsteilnehmer haben und von einigen Bundesländer regelrecht als Vorschrift gehandhabt werden. In Sachsen zum Beispiel.

2016 gab es einen denkwürdigen Skandal, als zwei namhafte Mitglieder den Vorstand des Vereins verließen. Wikipedia fasst das so zusammen: „Die Februar-Ausgabe 2016 der Zeitschrift ,mobilogisch!‘ veröffentlichte auf der Grundlage ihr vorliegender Originaldokumente (Austrittsschreiben) einen kritischen Artikel zu Politik und Struktur der FGSV: Die FGSV, deren Ausschüsse von der Grünzeit bei Ampeln bis zur Breite von Autobahnen das deutsche Verkehrswesen wesentlich bestimmen, basiere ähnlich der FIFA auf einem altertümlichen, männlich dominierten Netzwerk, beteilige Betroffene nicht an der Aufstellung von Regeln, sei nicht demokratisch legitimiert und nicht in der Lage zu einer längst überfälligen Strukturreform. Unter anderem sei Ende 2014 Klaus J. Beckmann, ehemaliger Präsident des Deutschen Instituts für Urbanistik (DIFU) nach dem Scheitern von Reformbemühungen zurückgetreten, Ende 2015 in der Folge auch Helmut Holzapfel von seinem Posten als Mitglied des Ausschusses Vorausschätzung des Verkehrs.“

Und Geist dieses „altertümlichen, männlich dominierten Netzwerkes“ ist auch dieser durch keine Logik begründete Baumabstand von 7,50 Meter zum Fahrbahnrand, der sich an gewachsenen Straßenverläufen praktisch nicht umsetzen lässt.

Das ergibt nämlich genau das, was Günther als permanenten Baumverlust an sächsischen Straßen feststellt. 2016 hatte ihm Verkehrsminister Martin Dulig auf die Nachfrage zum geltenden Regelwerk erklärt: „Die Richtlinien für passiven Schutz an Straßen durch Fahrzeugrückhaltesysteme (RPS 2009) enthalten keine eigenständigen Regelungen zum Umgang mit Bäumen. Sie sind aber bei der Neupflanzung von Bäumen an Straßen anzuwenden, da Bäume ab einem Stammumfang von > 25 cm als nicht verformbares punktuelles Einzelhindernis i. S. der RPS gelten.“

Es wird also deutlich, wie die dominanten Männer der Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen e. V. einfach mit einer Regel, die sie sich als Maximalvariante ausgedacht haben, Bäume nur als mögliches Aufprallhindernis und damit als zu beseitigen definiert haben. Sie haben nicht einmal einen Umgang mit diesen Straßenbäumen vorgeschrieben – sie haben sie einfach aus der Bannzone von 7,50 Meter ausradiert. Und Sachsens Verkehrsministerium folgt brav, freut sich eher, wenn das Bundesverkehrsministerium Fördergelder für Leitplanken in Aussicht stellt, die dann in 3 Meter Abstand zur Fahrbahn aufgestellt werden können, also dort, wo bislang in der Regel die Straßenbäume standen.

Nichtwiederanpflanzen mit System

Kein Wunder, dass sich Wolfram Günther bei so viel Unfug, der systematisch das Straßenbegleitgrün abrasiert, nur noch an den Kopf fasst.

2016 hatte Dulig noch gemeint: „Der Sächsischen Staatsregierung sind keine Fälle bekannt, bei denen die Anwendung der RPS 2009 zu Baumfällungen an Straßen geführt hat.“ Aber dann werden die Nichtwiederanpflanzungen noch problematischer. Denn dann lautet die Aussage wohl eher: Mit der RPS 2009 werden Wiederanpflanzungen verhindert. Alte und gefällte Bäume werden schlicht nicht wieder ersetzt, weil sie nach RPS 2009 an der „falschen“ Stelle standen.

Denn 2016 sagte Dulig auch ausdrücklich: „Die Richtlinien für passiven Schutz an Straßen durch Fahrzeugrückhaltesysteme (RPS 2009) enthalten keine eigenständigen Regelungen zum Umgang mit Bäumen. Sie sind aber bei der Neupflanzung von Bäumen an Straßen anzuwenden, da Bäume ab einem Stammumfang von > 25 cm als nicht verformbares punktuelles Einzelhindernis i. S. der RPS gelten.“

„Straßenbäume haben nicht nur einen hohen ökologischen Wert, sondern sind als Baumalleen oft auch landschaftsprägend“, erläutert Wolfram Günther. „Leider haben sie bei der sächsischen Staatsregierung keine Lobby. Als Hindernis für Baumaßnahmen oder mit der Begründung der Verkehrssicherung werden Bäume immer wieder entfernt. Zudem werden viele Bäume durch landwirtschaftliche Arbeiten bis direkt an den Baumstamm heran oder durch massiven Streusalzeinsatz beschädigt und sterben letztendlich ab.“

Um die ökologischen Leistungen eines Altbaumes bei Sauerstoffproduktion, Temperaturausgleich oder als Lebensraum für Tiere auch nur annähernd zu erreichen, müssten für einen gefällten drei Jungbäume nachgepflanzt werden. Die restriktive Anwendung des Mindestabstands für Neupflanzungen von 7,50 Meter zum Fahrbahnrand an Straßen ohne Höchstgeschwindigkeit (Richtlinie für den passiven Schutz an Straßen (RPS)) macht derartige Nachpflanzungen aber meist unmöglich. Straßenbaulastträger verfügen kaum über so viel Land hinter dem Straßenrand.

„Diese Vorschrift geht an der Realität völlig vorbei“, sagt Günther. Ergänzt aber auch: „Die Richtlinie ist allerdings kein Gesetz, sondern lediglich eine Empfehlung. Sie geht von der Maximalforderung aus, neue Bäume möglichst weit vom Fahrbahnrand zu pflanzen.“

Und da ist man dann wieder bei der Verantwortung des sächsischen Verkehrsministers, unter dessen Regie die Zahl der Bäume an sächsischen Bundes- und Staatsstraßen allein von 257.258 auf 238.078 sank. Niemand hätte ihn gezwungen, die RPS 2009 in Sachsen wie ein Gesetz anwenden zu lassen.

„Nachpflanzungen mit einem geringeren Pflanzabstand zur Straße müssen wieder möglich werden“, fordert Günther deshalb. „Falls nötig, können für die Verkehrssicherheit hierfür angepasste Leitplanken und Geschwindigkeitsbegrenzungen zur Anwendung kommen.“

Das Kettensägenmassaker an Sachsens Straßen setzte sich auch 2017 fort

Das Kettensägenmassaker an Sachsens Straßen setzte sich auch 2017 fort

Hinweis der Redaktion in eigener Sache: Eine steigende Zahl von Artikeln auf unserer L-IZ.de ist leider nicht mehr für alle Leser frei verfügbar. Trotz der hohen Relevanz vieler unter dem Label „Freikäufer“ erscheinender Artikel, Interviews und Betrachtungen in unserem „Leserclub“ (also durch eine Paywall geschützt) können wir diese leider nicht allen online zugänglich machen.

Trotz aller Bemühungen seit nun 15 Jahren und seit 2015 verstärkt haben sich im Rahmen der „Freikäufer“-Kampagne der L-IZ.de nicht genügend Abonnenten gefunden, welche lokalen/regionalen Journalismus und somit auch diese aufwendig vor Ort und meist bei Privatpersonen, Angehörigen, Vereinen, Behörden und in Rechtstexten sowie Statistiken recherchierten Geschichten finanziell unterstützen.

Wir bitten demnach darum, uns weiterhin bei der Erreichung einer nicht-prekären Situation unserer Arbeit zu unterstützen. Und weitere Bekannte und Freunde anzusprechen, es ebenfalls zu tun. Denn eigentlich wollen wir keine „Paywall“, bemühen uns also im Interesse aller, diese zu vermeiden (wieder abzustellen). Auch für diejenigen, die sich einen Beitrag zu unserer Arbeit nicht leisten können und dennoch mehr als Fakenews und Nachrichten-Fastfood über Leipzig und Sachsen im Netz erhalten sollten.

Vielen Dank dafür und in der Hoffnung, dass unser Modell, bei Erreichen von 1.500 Abonnenten oder Abonnentenvereinigungen (ein Zugang/Login ist von mehreren Menschen nutzbar) zu 99 Euro jährlich (8,25 Euro im Monat) allen Lesern frei verfügbare Texte zu präsentieren, aufgehen wird. Von diesem Ziel trennen uns aktuell 500 Abonnenten.

Alle Artikel & Erklärungen zur Aktion Freikäufer“

Empfohlen auf LZ

So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:

Ralf Julke über einen freien Förderbetrag senden.
oder

Es gibt 2 Kommentare

Schreiben Sie einen Kommentar