LEIPZIGER ZEITUNG/Auszug Ausgabe 70, seit 23. August im HandelNoch gerade einmal neun Tage werden es bis zur „entscheidenden“ Landtagswahl am 1. September 2019 in Sachsen sein, wenn die LEIPZIGER ZEITUNG erscheint. Schon dann wird klar sein, dass alle Plakate gehängt, jeder Stadtteil mit Infoständen übersät wurde und praktisch alle Podiumsdebatten ohne größeren Eklat über die Bühne gingen. Und eine Erkenntnis wird sich erneut verfestigt haben: ohne CDU bildet in Sachsen auch 30 Jahre nach dem Wendeherbst 1989 niemand eine Regierung. Sagt die CDU und letztlich haben es alle anderen Parteien bereits innerlich abgenickt, 2018 begonnen bei der SPD Sachsen.
Vor einem runden Jahr war die Bruchkante der Gemeinsamkeiten der scheidenden CDU/SPD-Koalition eigentlich erreicht. Das mittlerweile durch Linke und Grünen gerichtlich beklagte neue Polizeigesetz für Sachsen sorgte für lauten Protest, mal wieder fehlten eine wirklich unabhängige Beschwerdestelle für die Bürger und eine Kennzeichnungspflicht für Einsatzbeamte. Dafür soll es weitere anlasslose Überwachungsmöglichkeiten für Kfz und Bürger geben. Den mühsam durch die Sozialdemokraten erzielten Neueinstellungskompromiss bei der zerschrumpften Polizei Sachsens schreibt sich heute die CDU auf ihre Wahlplakate.
Die Initiative von Verkehrsminister Martin Dulig (SPD) zur gemeinsamen Nahverkehrsgesellschaft scheiterte fast zeitgleich an den CDU-Landräten, welche sich die Hoheit über ihre kleinen Fürstentümer nicht nehmen lassen wollten und die CDU ging das erste Mal auf die Jagd nach dem Wolf in der Lausitz. Statt die Schutzstandards und Ausgleichszahlungen für die Tierzüchter zu erhöhen, will man streng geschützte Tiere leichter erschießen können.
Parallel starteten SPD, Linke und Grüne den mittlerweile mit über 50.000 Unterschriften versehenen Volksantrag für längeres gemeinsames Lernen über Klasse 4 hinaus.
Eine Regierungspartei opponierte also praktisch aus der eigenen Koalition gegen die Koalition, denn die CDU hält bis heute die Selektion der Kinder nach Abitur und Restschule in der vierten Klasse weiterhin für richtig.
Dass die Hürde bei eben diesem Volksantrag mit mindestens 40.000 Unterschriften ungewöhnlich hoch ist, liegt ebenfalls an einer CDU, die sich bereits seit Jahrzehnten gegen eine Absenkung der „Quoren“, also der Hürden für solche Anträge und Begehren (dann rund 400.000 Unterschriften in Schritt 2) der Bürger auf Landesebene sperrt. Und dass das Wahlalter in Sachsen auch bei dieser Landtagswahl noch immer bei 18 Jahren steht, wäre nach Willen von SPD, Linken, Grünen und sogar der FDP ebenfalls nicht der Fall.
Und dennoch wird es keine Abwahl der CDU geben.
Heute fast vergessen scheint, dass sich Ende 2017 mit Brunhild Kurth, Markus Ulbig und Georg Unland drei entscheidende CDU-Minister verabschiedeten. Ob sie es mussten, ist heute angesichts der fehlenden Polizeibeamten bei Ulbig und der jahrelangen Unterfinanzierungen in den Bereichen Bildung, ÖPNV und sozialem Wohnungsbau bei Unland unstrittig. Nur Brunhild Kurth warf mit 63 Jahren vorgeblich freiwillig aus Altersgründen nach nur drei Ministerjahren das Handtuch im Angesicht von durchschnittlich 10 Prozent Stundenausfall an den Schulen Sachsens und einer fehlenden Neueinstellungsstrategie bei den Lehrerkräften.
Sie alle gerieten in den Sog des Rücktritts von Stanislaw Tillich (CDU), welcher heute Lobbyist für eine russische Fluglinie ist und dessen Planlosigkeit bereits bei Amtsantritt mit Händen zu greifen gewesen war.
Der unterlassene Koalitionsbruch
Dass trotz all der langwierigen Fehlstellungen in den vergangenen Wochen längst und zunehmend langweiliger debattiert wird, zeigt, dass letztlich bei dieser Sachsenwahl keine Revolution ins Haus steht. Die AfD verharrt seit Monaten wie festgezurrt bei maximal 25 Prozent, die „Machtübernahme“ in Sachsen scheitert, da niemand mit den Rechtsradikalen um den langjährigen Solarunternehmer Jörg Urban (AfD) koalieren wird.
Zumal mittlerweile klar geworden sein dürfte: eine ostdeutsche Partei ist die in der Bundesspitze klar westdeutsch dominierte AfD nicht. Und ein weiterer Umstand gibt – neben der Wanderung der Wähler zwischen 50 und 80 Jahren von der CDU und Linken Richtung AfD – ein klares Indiz, wofür die „Patrioten“ letztlich auch stehen. Die NPD ist in Sachsen praktisch rückstandslos verschwunden, nach noch fast 5 Prozent 2019 taucht sie in den Umfragen noch hinter den freien Wählern (3 Prozent) unter Sonstige mit weniger als einem Prozent unter. Statt dem braunen „Ausländer raus“, ist es nun smarter „gegen Muslime“ zu sein.
Am 20. August 2019 schloss zudem der mittlerweile durch einen strikten Personenwahlkampf als „Team Kretschmer“ auftretende, zukünftige Ministerpräsident neben einer Zusammenarbeit mit der Linkspartei und der AfD auch eine Minderheitsregierung aus. Was eine Tolerierung und hier und da die Stimmen der AfD bei einzelnen Abstimmungen in den kommenden fünf Jahren hätte bedeuten können. Ein kluger Schachzug offenbar, denn so bleibt das Mantra der „Mitte“ rings um die CDU erhalten, welche dafür immerhin 1,5 Millionen Euro in ihren Wahlkampf investiert.
Alles läuft somit auf eine zumindest rechnerisch machbare CDU/SPD/Grünen-Regierung hinaus, das Wort Kretschmers dürfte Bestand haben, in den letzten Monaten konnte sich der CDU-Listenkandidat Nummer 1 auch aufgrund mangelnder Konkurrenz in der eigenen Partei festigen. Und die Talfahrt von einst 39,4 Prozent im Jahre 2014 scheint beendet: die CDU steht nun bei 28 Prozent in den Umfragen, Tendenz also steigend (Stand 21. August 2019, siehe Anmerkung am Schluss, d. Red.).
Eine Konstellation aus CDU/Grünen/SPD, die in der Sitzanzahl noch fester im Sattel landet, wenn die FDP erneut unter Holger Zastrow wahlkämpfend an der 5-Prozent-Hürde scheitert. Was durchaus im Bereich der Möglichkeiten liegt, alle Umfragen sehen die Liberalen um die 5 Prozent-Hürde herumdümpeln, nachdem sie wegen ihrer Regierungsbeteiligung an der Seite der CDU 2014 unter der damaligen Landesführung Zastrows aus dem Landtag flog. Kommen die Liberalen wieder ins Sachsenparlament, steht zumindest die theoretische Option für die CDU, eine Minderheitsregierung mit ihnen zu bilden.
Entscheidender ist jedoch, dass sich eine weitere mögliche Regierungskoalition von Beginn an selbst verzwergt und keine Option anbietet.
Einen echten Aufbruch zu einer Koalition ohne die Christdemokraten hat man bereits im Jahr 2018 verspielt. Als sich die SPD entschied, lieber ein Polizeigesetz mitzutragen, was Ende 2019 zwar in Kraft treten, aber wohl in einigen Punkten verfassungsrechtlich kassiert werden wird, hatte sie nicht den Mut, aus der Koalition auszuscheiden und sich offen einer progressiven Mehrheit zuzuwenden. Damit bekamen und bekommen die Wähler keinen Eindruck davon, was möglich wäre, eine Regierungsalternative ohne CDU fehlt bis heute. Der zaghafte Versuch von „Umkrempeln“ wird derzeit eher als Zukunftsprojekt verstanden, für die Landtagswahl 2019 in Sachsen hält kaum noch jemand ein „R2G-Projekt“ für möglich.
All dies stärkt somit ebenfalls das Mantra von der „Mitte-Kraft“ der CDU, welche im Wahlkampf nun nur noch Anleihen aus allen anderen Parteien nehmen muss. So veranstaltete die sächsische Staatskanzlei mittlerweile ohne relevante Ergebnisse eine „Klimakonferenz“ in Leipzig und umarmte so zumindest an der Oberfläche kurzzeitig ein Klientel, welches eher grün wählen dürfte. Wie der mitveranstaltende eher christdemokratisch beeinflusste Landesschülerrat dies alles und sein Verhältnis zur „Fridays for Future“-Bewegung sieht, kann man an den Wahlprüfsteinen sehen. Das Wort Umwelt fehlt.
Die Leidtragende der fehlenden rot-rot-grünen Regierungsoption wird wohl zuerst die SPD Sachsen selbst sein. Durch die fehlende Absetzungsbewegung steckt sie in einem Wahlkampf, in welchem sie die eigenen Ergebnisse der endenden Legislatur betonen muss und dennoch ständig für die vergangenen Jahre CDU-Politik weit über die aktuelle Legislatur hinaus mitverhaftet wird. Heraus kommt durch die fehlende Distanz und dem Wissen der Wähler, dass es für etwas anderes als eine erneute Regierung mit der CDU nicht reichen wird, ein seit Monaten feststehender Umfragewert von knapp über 8 Prozent (bei 12,4 noch 2014) dürfte sich so auch trotz aller Ablehnung von Voraussagen am Wahltag ergeben.
Auch der Linken scheint die damit erneut gegebene Nichtbeteiligung an einer Regierung ebenfalls keinen Aufwind zu verschaffen. Von einst 18,6 Prozent 2014 steht man nun über gleich drei unabhängige Umfragen vom 20. August 2019 bei 15 bis 16 Prozent, der Blick auf die Europawahl zeigte bereits diesen Trend an. Ohne Machtperspektive bleiben die Linken auch weiterhin als Daueropposition bestehen, eine klare Kante von Rot-Rot-Grün hätte vor allem ihnen genutzt.
Bleibt die Frage nach den Grünen
Setzt man die Regierungsbildung bei derzeit zusammen 48 Prozent für CDU/SPD/Grüne und 12 Prozent für den dritten Partner voraus, bliebe die gerade zwischen dem neuen Partner und der CDU entscheidende, inhaltliche Frage. Eingedenk der Beispiele von FDP und nun SPD dürften die Grünen mit Katja Meier und Wolfram Günther an der Wahlkampf-Spitze vorgewarnt sein. Wer mit der sächsischen CDU koaliert, muss sich für gewöhnlich auf deutliche Einbrüche bei der eigenen Klientel gefasst machen, mancher fliegt dafür sogar fünf Jahre später aus dem Landtag.
Insbesondere der seit Jahren tobende Streit um die Zukunft des Braunkohlelandes Sachsen und die Zukunft der Lausitz wird ein Verhandlungsgraben werden, für den alle ganz lange Beine benötigen, um ihn zu überschreiten. Denn genau hier stehen sich eine CDU, welche den gesamten Ausbau erneuerbarer Energien in Sachsen auf nahe Null gefahren hat und die Grünen derzeit unversöhnlich gegenüber. Dass Kretschmer vom Kurs des Kohleausstieges vor 2038 nichts wissen will, hat er deutlich gemacht, die Verhinderung von Windkraftanlagen ist in Sachsen derzeitiges Regierungshandeln.
Zudem sind die Grünen Kläger gegen das Polizeigesetz, setzen auf vegetarische Ernährung aus regionalem Anbau und bekämpfen längst aktiv die gewachsenen Strukturen der Großagrarbetriebe in Sachsen zugunsten mehr Biowirtschaft. Und auch beim Thema Wald wird es knirschen. Die angekündigten 50 Millionen neuen Baumpflanzungen der CDU meinen erneut eher Plantagenwälder aus schnell wachsenden Nadelgehölzen, welche gerade aufgrund mangelnder Resilienzen an Wassermangel und dem Borkenkäfer sterben.
Derzeit zeigt jedoch jede U18-Wahl, wem die Grünen letztlich verpflichtet sind. Während CDU, Linke und AfD durchaus auf ältere Wähler Rücksicht nehmen müssen, ist hinter den Grünen mit „Fridays for Future“ vor allem die Jugend versammelt und wird sie wohl auch am 1. September 2019 wieder mit um die 30 Prozent wählen. Eine Aufgabe der Kernziele grüner Klimapolitik zugunsten einer á la CDU käme hier einem Wählerverrat gleich, ein weiteres Zuwarten beim ÖPNV-Ausbau vor allem als Maßnahme gegen das Dorfsterben in Sachsen genauso, wie ein fortgesetztes Abbaggern von beispielsweise Pödelwitz oder Mühlrose.
Vor allem die Grünen stehen also bei dieser Konstellation vor der Herausforderung, die sie mit Linken und SPD so nicht gehabt hätten: ihren Wählern nach dem 1. September 2019 das Wort “Kompromiss” so lange zu erklären, bis sie es glauben können. Eine echte Alternative haben auch sie nicht angeboten, weshalb sie wohl einen langen Weg durch die Instanzen vor sich haben.
Bevor es also ans Verteilen von Ministerien geht, sollten sie die SPD fragen, wie sich das anfühlt. Und das bei einer Koalitionsidee mit der CDU, für welche vor gerade einmal fünf Jahren Antje Hermenau parteiintern aller Verantwortung enthoben wurde und anschließend die Grünen Richtung Freie Wähler verließ.
Anm. d. Red.: Am 22. August 2019, also nach dem Redaktionsschluss der LZ, erschienen neuere Wahlumfragen zum möglichen Wahlverhalten der Sachsen am 1. September 2019. In dieser gingen die Umfragewerte im gewichteten Durchschnitt aller Umfragen für alle Parteien außer der CDU nach unten. Die Linke verlor weiter (am stärksten um 0,4 Punkte) auf nun noch 15,2 Prozent, gefolgt von den Grünen mit minus 0,3 (nun 11,2 Prozent), während SPD (8,1 %), AfD (25 %) und FDP (5,1 %) alle um jeweils 0,2 Punkte schrumpften.
Die seit nunmehr 29 Jahren in Sachsen regierende CDU konnte erneut um 1,7 Prozent auf nun 29,3 Prozent bei der Zweitstimmen-Umfrage zulegen. 2014 erreichte sie jedoch noch 39,4 Prozent, ein Wert, der längst unerreichbar fern liegt, vor allem durch das Erstarken der AfD.
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Es gibt 2 Kommentare
@Rudi: Ja, ist eine Frage, aus welcher der beiden Perspektiven (Grüne, Hermenau) man auf die Frage schaut 😉 Jedenfalls getrennt, der Streit ging natürlich tiefer, hing aber auch an der CDU-Nähe Hermenaus 2014. Heute scheint es irgendwie möglich, dass hier die Grünen und die CDU zusammenkommen – und genau darauf wäre ich extrem gespannt ^^
Antje Hermenau ist vor allem deshalb nicht mehr bei den Grünen, weil sie dort inhaltlich nicht hin passte.