Es war angekündigt und am Montag, 29. Juli 2019 kam es zum Treffen zwischen Vertretern von „Leipzig nimmt Platz“ (LnP) und dem am 1. Februar 2019 neu angetretenen Leipziger Polizeipräsidenten. Zwar hat sich Torsten Schultze noch nicht zum Treffen geäußert (mittlerweile ja, d. Red.), doch die am 9. Juli 2019 in der Hildegardstraße abgegebene Visitenkarte war deutlich. Im Rahmen einer Abschiebung war es im Leipziger Osten zu friedlichen Protesten gekommen, welche in der Nacht 1 Uhr eskalierten. Wer dabei über die Strenge schlug, war auch Thema am Montag im Polizeirevier an der Dimitroffstraße.
Einigkeit scheint es nach einem gemeinsam verfassten offenen Brief und nun dem Gespräch über den Wunsch nach einer gewissen Normalisierung zu geben: „Wir sind uns einig, dass es darum geht, das Versammlungsgrundrecht zu wahren und zu schützen. Beide Seiten eint darüber hinaus der Wille, Eskalationen und Gewalt zu vermeiden. Darüber, wie das in Zukunft gelingen kann, haben wir offen und konstruktiv miteinander gesprochen.“, so das gemeinsame Statement von Juliane Nagel, MdL, Marco Böhme, MdL, Irena Rudolph-Kokot, Aktionsnetzwerk „Leipzig nimmt Platz“ und Jürgen Kasek, Rechtsanwalt.
Wobei natürlich ein Widerspruch letztlich kaum in einem solchen Gespräch auflösbar war. Denn weiter heißt es: „Ebenso wie es die Aufgabe der Polizei ist, Bescheide, so unsinnig sie auch sein mögen, ggf. umzusetzen, muss es die Möglichkeit geben, dass alle Menschen, im Rahmen eines kommunikativen Aktes, ihre Meinung zum Ausdruck bringen können. Dazu gehört für uns auch ziviler Ungehorsam als bewusster Akt des Widerstands gegen die Einschränkung von Menschenrechten.“
Weshalb auch die Vorgänge am 9. Juli 2019 hätten ganz anders verlaufen können, denn ob der Einsatz der Polizei, lange nach der bereits erfolgten Abschiebung, noch verhältnismäßig war, musste wohl offen bleiben. Zumindest war eher nicht zu erwarten, dass man aus dem Gespräch mit einer Entschuldigung seitens Polizeipräsidenten Schultze kommen würde. Dennoch erwarte man, „dass auch in der sächsischen Polizei eine Fehlerkultur einzieht, die es möglich macht, Einsätze wie den am 9. Juli auch selbstkritisch zu reflektieren.“
Weshalb das Gespräch eine Art Kennenlernen gewesen sein dürfte, bei welchem LnP darauf hinwies, dass die Polizei im Einzelfall auch eine Maßnahme abbrechen kann, wenn ihr dazu die Gewaltanwendung zu hoch scheint. Doch „darüber, wie polizeiliches Handeln im Nachhinein zu bewerten ist und wann die Grenze der Verhältnismäßigkeit erreicht ist, herrscht erwartbarer Dissens“. So habe man deutlich gemacht, dass „es nach der Beendigung der angemeldeten Kundgebung auch einen Rückzug der Polizei hätte geben müssen, wodurch eine deutliche Entspannung der Lage erreicht hätte werden können.“
Mangelnde Transparenz
Bei aller Hoffnung auf die Zukunft jedoch ist wohl allen Beteiligten klar gewesen, dass sich letztlich alles um die Frage dreht, wann in Sachsen eine von den üblichen Polizeistrukturen unabhängige Beschwerdestelle entsteht. Eine polizeiliche Anlaufstelle, die so ausgestattet wird, dass sie auch Anzeigen, Beschwerden und Nöte der Bürger bearbeiten kann, wenn sich Polizeibeamte im Dienst nicht mehr an Maß und Mitte halten und selbst zu überzogener Gewalt greifen. Denn so lautet der Vorwurf nach dem 9. auf den 10. Juli 2019 durchaus.
„Dazu bedarf es einer Kennzeichnungspflicht“, fordern die vier in ihrem Statement, um „das Handeln der Beamt*innen transparenter [zu] machen und letztlich das Vertrauen in die Arbeit der Polizei [zu] fördern.“ Zwei Forderungen, welche bereits seit Jahren im Raum stehen und bislang noch von jedem Polizeipräsidenten und jedem Innenminister im CDU-geführten Ressort abgelehnt wurden.
Doch genau darum geht es letztlich, will man den Umgang zwischen Polizei und Bürger wieder vertrauensvoller gestalten. Wenn man am 10. Juli 2019 bei der zweiten Demonstration an der Hildegardstraße die Protestierenden fragte, war dies ein dominantes Thema. Selbst verletzte, umgestoßene und teils hart attackierte Unbeteiligte an den Auseinandersetzung des Vorabends scheuten eine Strafanzeige gegen die entsprechenden Beamten. Sie seien entweder eh nicht „auffindbar“, also ermittelbar oder es „führe zu nichts“, selbst wenn dann mal ein gewalttätiger Beamter erkannt würde.
Meist erhalte man selbst eine Gegenanzeige, während die Verfahren gegen die Beamten eingestellt werden. Das weitere Dilemma bei dieser Ungleichheit der Möglichkeiten: die nicht erstatteten Anzeigen tauchen so auch in keiner Statistik auf, die Polizeiarbeit kann anschließend als statistisch hervorragend dargestellt werden, die schwarzen Schafe bleiben in den Polizeireihen, der Innenminister ist glücklich, die betroffenen Bürger eher nicht.
Apropos betroffene Bürger
Die Abschiebung des 23-jährigen Kurden aus Aleppo nach Spanien selbst, welche sich nach ersten L-IZ.de-Informationen durchaus als widerrechtlich aufgrund schwerer Verfahrensfehler herausstellen könnte, könnte so ein Präzedenzfall in mehrerlei Hinsicht werden. Sollte die weitere Sachlage also am Ende ergeben, dass der in Spanien längst EU-weit anerkannte geflohene Syrer Mohammed A. zu Unrecht von seiner in Deutschland anerkannten Familie in ein Flugzeug nach Madrid gesetzt und dort einfach in die Obdachlosigkeit entlassen wurde, hätten sich die Polizeibeamten am 9. Juli 2019 in mehrfacher Hinsicht an Unrecht beteiligt.
Zwar sei auch den Vertretern von LnP „bewusst, dass es Aufgabe der Polizei ist, bestehende Gesetzeslagen zu exekutieren.“ Und auch „in erster Linie die Landesregierung, die um jeden Preis und ohne Rücksicht auf Einzelschicksale Abschiebungen durchsetzen will“ hier anzusprechen, weshalb es auch eine andere Rechtslage brauche, „damit Abschiebungen wie die am 9.7.2019 erst gar nicht angeordnet werden.“
Aber auch jeder Polizist und jede Polizistin seien „mündige Bürger*innen in Uniform. Deswegen können wir sie auch nicht gänzlich aus der Verantwortung bei der Umsetzung entsprechender Weisungen entlassen.“ Der gesellschaftliche Auftrag der Polizei gehe „unserer Meinung nach verloren, wenn die Beamt*innen in den Einsätzen das Feingefühl für eben diese Ausgewogenheit von Exekutivgewalt und erwartbarem Ergebnis nicht wichtig nehmen.“
Den aufgenommenen Gesprächsfaden will man fortzuführen, „um mit Verständnis und Respekt aufkommende Probleme im Idealfall zeitnah zu lösen.“ Im Kern geht es darum, wie „in Zukunft Gewalt verhindert werden kann.“ Das Gespräch am 29. Juli war laut der Teilnehmer „ein erster Schritt dahin, eine kritische Selbsteinschätzung des polizeilichen Handelns in dieser Nacht vermissen wir allerdings weiterhin.“ Hinzu kommt wohl, dass auch noch Sachsens Innenminister Roland Wöller (CDU) sich medienwirksam mit der von der Polizei dementierten Behauptung zu Wort meldete, es habe gar angegriffene Rettungskräfte gegeben.
Man darf also gespannt sein, wie dick der Faden unter den nach wie vor nicht geänderten Grundbedingungen polizeilicher Arbeit in Sachsen überhaupt werden kann.
Nachtrag der Redaktion
In einem Statement des Polizeipräsidenten Torsten Schultze führte dieser aus: „Aufgabe der Polizei ist es, Grundrechte der Menschen zu gewährleisten. Verfassungsrechtlich normiert ist aber auch, dass das Gewaltmonopol beim Staat liegt. Mithin findet zum Beispiel die Demonstrationsfreiheit ihre Grenzen in der Unfriedlichkeit. Die berechtigte Erwartungshaltung der Gesellschaft ist, dass die Polizei Recht und Gesetz im Rahmen der Verhältnismäßigkeit durchsetzt. Nur dies darf Handlungsleitlinie der Polizei bei der Erfüllung ihres Auftrages sein. Hinsichtlich des Verlaufs solcher Ereignisse bestand insbesondere Einigkeit über die herausgehobene Bedeutung von Kommunikation.“
Hierbei betonte er auch die „sehr konstruktive Atmosphäre“ des Gespräches.
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