LEIPZIGER ZEITUNG/Auszug Ausgabe 69, seit 19. Juli im HandelAls sich die knapp 500 herbeigelaufenen Anwohner, Studenten, Presse und Aktivisten am 10. Juli 2019 auf der Hildegardstraße gegen 1 Uhr Aug in Aug mit der uniformierten Staatsmacht und deren Gewalt konfrontiert sehen, ist das eigentliche Drama längst geschehen. Leise, schnell und überaus effizient. Der Sohn der Familie A. ist vor Stunden von einer Art Greiftrupp der Polizei in ein Auto bugsiert und weggefahren worden, seine Mutter befindet sich mit einem Nervenzusammenbruch im Krankenhaus.

Beim Eindringen der Beamten habe sie geschrien, sei weinend zu Boden gesunken, wird die Polizeidirektion Leipzig eine Woche später die Situation in der Wohnung bestätigen. Was zu diesem Zeitpunkt noch niemand weiß: die kurdische Familie aus dem nordsyrischen Aleppo ist längst im Fokus der Behörden gewesen, obwohl sie unauffällig im Leipziger Osten lebt. Strafanzeigen gegen sie liegen nicht vor, die Abschiebung des 23-jährigen Mohammed trifft die Familie eiskalt und durchaus überraschend. Einen Rechtsbeistand hat Familie A. nicht, bei der Caritas soll man ihr gesagt haben, sie brauche keinen Anwalt.

Die Amtsbriefe können sie kaum deuten, sie stehen also weitgehend schutzlos dem staatlichen Vorgehen gegen sie gegenüber. Und sie haben, wie so viele Kurden, die dem IS gegenüberstanden, Deutschland bis zu diesem 9. Juli 2019 eigentlich anders kennengelernt; aufnehmend, freundlich, hilfsbereit.

Denn die Aufnahmequote für Kurden aus den Kriegsgebieten Syrien, aber auch dem Iran oder Irak ist erfahrungsgemäß hoch, die meisten durften in den vergangenen Jahren bleiben, so auch die Familie A. Was ihr offenkundig zum Verhängnis wurde, ist neu und trifft ihren Sohn, welcher erst später als sie, im Jahr 2017 über Spanien, nach Deutschland kam. Seit einigen Monaten haben die Behörden begonnen, die sogenannte „Drittstaatenregelung“ gegen immer mehr Menschen zu exekutieren, die noch keinen festen Asylstatus mit Bleiberecht haben.

Flüchtlinge im EU-Kreisverkehr

Mohammed A. gehört zu ihnen, er hat keinen Sprachkurs belegen dürfen und ohne einen erfolgreichen Sprachabschluss kann er auch keine Ausbildung beginnen. Die Ausbildungsduldung in Deutschland ist so für ihn nie erreichbar gewesen. Der Grund dafür ist der Asylantrag, welchen er ordnungsgemäß in Spanien gestellt hat und dem stattgegeben wurde. Als er am Abend des 10. Juli 2019 am Madrider Flughafen auf die Straße gesetzt wird, ist er demnach ein in ganz Europa anerkannter Flüchtling nach den Vorgaben des UNHCR. Und obdachlos.

Als der 23-Jährige Mohammed A. am 11. Juli 2019 in einer Madrider Kirche Unterschlupf findet, beginnen er und seine Familie langsam zu begreifen, dass Deutschland mit seiner Abschiebung für eine 30 Monate andauernde Reisesperre gesorgt hat. Der einzige Weg seiner Abschiebung zu entgehen, wäre 2017 die direkte Einreise aus Syrien nach Deutschland mit dem Flugzeug gewesen. Alle anderen Wege und die Beantragung eines Asyls in Spanien werden vor allem seit 2019 immer mehr Menschen zum Verhängnis.

Für die kommenden zweieinhalb Jahre lautet damit Mohammeds neue Heimat fern der Familie Spanien. Da er für die deutschen Behörden mit seinem überschrittenen 18. Lebensjahr als erwachsen gilt – eine Sichtweise fern jeder Realität aufgrund seines Ausbildungsstandes und Herkunft, wie täglich mit solchen Fällen vertraute Vereine gegenüber LZ auf Nachfragen deutlich formulieren –, bleiben ihm nunmehr kaum noch Optionen für eine Rückkehr zu seiner Familie in Leipzig.

Er müsste das schaffen, was ihm schon in Leipzig in den letzten zwei Jahren nicht gelang, vor allem aus Gründen staatlicher Versagung: eine oder einen deutschen Staatsbürger heiraten, einen Job oder eine Ausbildung nun gar aus der Ferne in Deutschland finden oder wenigstens ein freiwilliges soziales Jahr. Bedingung für alle diese Wege zurück: jemand müsste nun neben dem Sprachkurs, der folgenden Ausbildungsvergütungen und weiterer Kosten auch noch seine Abschiebung bezahlen. Also den Flug, die eventuelle „Reisebegleitung“ durch deutsche Polizeibeamte, womöglich gar den ausgeuferten Polizeieinsatz bei seiner Abholung in der Hildegardstraße.

Die Schätzungen für seine Wiederkehr nach Deutschland in den kommenden 2,5 Jahren schwanken derzeit zwischen 5.000 und 50.000 Euro. Erst nach Ablauf der Frist darf er wieder reisen und seine Familie in Leipzig besuchen.

Perspektivlosigkeit statt Umdenken

Statt ihm also mit seinem bestätigten und europaweit gültigen spanischen Asylantrag in Deutschland einen Deutschkurs und somit eine erste Integrationschance zu gewähren, wurde er zudem in eine wesentlich schwerere Perspektive zumal ohne familiäres Umfeld, Wohnadresse und Freundeskreise verbracht. Während in Deutschland die Jugendarbeitslosigkeit bei den 15 bis 24-Jährigen bei historisch niedrigen 5,1 Prozent liegt und der Fachkräftemangel längst in allen Berufsfeldern angekommen ist, liegt diese EU-weit bereits bei 14,3 Prozent.

In Spanien jedoch ist sie trotz Saisonbereinigung der Zahlen im Mai 2019 nach den validen Angaben des Portals „statista.com“ auf unglaubliche 31,7 Prozent gestiegen. Dieses Schicksal einer „verlorenen Generation“ teilt Spanien mit den anderen – aus deutscher Sicht – Drittstaaten Griechenland (40,3 Prozent) und Italien (30,5 Prozent). Während die deutsche Wirtschaft brummt, hat der Binnenstaat auf europäischer Ebene mit der Verschärfung der „Drittstaatenregelung“ bei Zuwanderern in den letzten Jahren dafür gesorgt, dass nun Mohammed ohne gute Spanischkenntnisse mit über 30 Prozent einheimischen Jugendlichen um einen Ausbildungs- oder Arbeitsplatz konkurrieren soll.

Seine derzeitige Adresse ist eine Kirche irgendwo in Madrid, sein einziger Draht nach Leipzig das W-Lan der Gemeindeverwaltung, seine Chancen auf Integration ohne Hilfe gering bis nicht vorhanden. Nach Syrien kann er nicht, da gilt er im wehrfähigen Alter als „fahnenflüchtig“, nach Deutschland darf er nicht, weil die Ausländerbehörden auf Abschiebung statt Integration setzen und in Spanien braucht man ihn wohl nicht.

Noch ist er in seinem Leben nie straffällig geworden, noch.

Schlaflose Nächte in Leipzig

Am 10. Juli 2019 stehen rund 500 Menschen auf der Hildegardstraße und demonstrieren. Gegen die Polizeigewalt vom Vorabend und für eine Kennzeichnungspflicht bei Einsatzbeamten und die noch immer fehlende unabhängige Beschwerdestelle bei der Polizei. „Niemand muss Bulle sein“, macht angesichts der Abschiebung und der Szenen vom Vorabend die Runde. Gemeint auch, dass Polizeibeamte den Befehl zur Durchführung eines solchen Eindringens in eine private Wohnung auch verweigern können. Ein Grundrecht auf die Unversehrtheit der eigenen vier Wände, welches den Deutschen zusteht und hier ein Sonderrecht durch seine Verweigerung gegen Migranten darstellt.

Die bittere Erkenntnis auch: das Problem liegt oberhalb der Polizeiebene, Ausländerbehörden hätten Angst vor einem weiteren Erstarken rechtsradikaler Strukturen in Deutschland, deshalb würde nun abgeschoben, was sich greifen lässt. Vor allem in die sogenannten Drittstaaten, wo die sozialen Probleme durch noch mehr Obdach- und Arbeitslose weiter angeheizt werden. Italien wählt mittlerweile rechtsradikal, Griechenland stockkonservativ und Spanien stürzt gerade in eine veritable Neuwahlkrise, weil die Sozialisten keine Koalition zustande bringen.

Man beginnt sich von der Demonstration am 10. Juli aus in Leipzig zu vernetzen, in den kommenden Tagen steigt die Mitgliederzahl einer Telegramgruppe, in welcher Abschiebungen rasch erkannt und gemeldet werden sollen, auf über 1.000 an. Ein verschlüsselter WhatsApp-Chat soll ähnliches leisten.

Doch eins wird auch mit Blick auf Familie A. derzeit immer klarer: ohne rechtliches Umsteuern führt dieser Widerstand zwar gewollt zu steigenden Kosten bei Abschiebungen durch die zivilgesellschaftliche Gegenwehr. Doch als Zweiteffekt im Zweifel auch zu einer steigenden Anzahl illegal in Deutschland lebender Menschen ohne Zugang zum legalen Wohnungs- und Arbeitsmarkt. Ein Zustand, welcher bislang vor allem aus den USA bekannt ist, wo sogenannte „Illegale“ als neuzeitliche Sklaven für Schwarzarbeit und Schlimmeres missbraucht werden.

Verdrängung in die Illegalität?

Bei Familie A. ist wenige Stunden nach der kurzen Aufhellung bei der Solidaritätsdemonstration am 10. Juli der Schreck einer verzweifelten Apathie gewichen. Allein wissen sie sich noch immer nicht zu helfen, einen Anwalt haben sie weiterhin nicht gefunden, die Amtspapiere und Schreiben der Ausländerbehörde müssen erst einmal zusammengesammelt werden. Ein weiteres Mitglied ihrer Familie hat im Gegensatz zum Rest ebenfalls wie Mohammed nur eine sogenannte „Aufenthaltsgestattung“, aber zumindest auch einen Sprachkurs ergattert. Und es bildet sich eine kleine Unterstützerstruktur rings um die A.s.

Als vor wenigen Stunden (zum Redaktions-Ende der LZ am 17. Juli) endlich alle Unterlagen bei einem versierten Leipziger Integrationsverein auf dem Tisch liegen, geht die Suche nach einem Rechtsbeistand los. Ohne ihn könnte die Familie noch ein Mitglied verlieren, die Uhr tickt, der Wettlauf mit der Ausländerbehörde hat begonnen.

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Alle Artikel & Erklärungen zur Aktion “Freikäufer”

Bei Nacht und Nebel  (1): Der Einstieg in die Geschichte um Familie A.

Bei Nacht und Nebel (1)

Die Soli-Demo vom 10. Juli 2019 in Video, Audio und Fotos

Video: L-IZ.de

Juliane Nagel am 10. Juli 2019 zur Abschiebung am Vorabend

Laura von der Linksjugend zum Thema Polizeigewalt und fehlender Beschwerdestelle am 10. Juli 2019

Die Eltern von Mohammed A. (übersetzt) zu ihrer Einschätzung der Abschiebung

Bilder der Solidaritäts-Demo vom Abend des 10. Juli 2019 nach der Abschiebung am 9. Juli 2019

Rund 500 Menschen machten sich am 10. Juli 2019 von der Hildegardstraße aus zu einer Soli-Demo für den nach Spanien Abgeschobenen Mohammed A. auf. Dabei kam es am Runkiplatz zu einem Hitlergruß und „LOK“-rufen und ausländerfeindlichen Parolen einer Vierergruppe aus einem Imbiss heraus. Anschließend umlagerten die Demonstranten den Imbiss, an welchem am 25. Juni 2017 die „Hells Angels“ auf die United Tribunes gewartet hatten, um anschließend ein Mitglied der Migrantengang zu erschießen, bis die Polizei knapp 30 Identitätsfestellungen der Protestierenden vorgenommen und den Herrn, der „den Gruß“ gezeigt hatte, mit auf die Polizeidirektion Leipzig genommen hatte.

Die Demonstration verlief friedlich und wäre wohl ohne die rechtsradikale Intervention am Runki-Platz gegen 22 Uhr beendet gewesen. So dauerte das Geschehen bis etwa 24 Uhr an.

Protokoll einer Eskalation: Wie eine Abschiebung in einer Straßenschlacht endete + Video

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Eskalierte Abschiebung in der Hildegard: Polizei hat keine Erkenntnisse über verletzte Rettungskräfte

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